0924 - Das Totenbuch
ersten Augenblick war Sheila so erstarrt, daß sie nicht mehr reagieren konnte. Sie starrte die Schatten an, die unterschiedlich groß waren. Riesige Köpfe mit verzerrten Mäulern. Plumpe, aber auch schlanke Körper, weder Mensch noch Tier.
Schreckliche Fabelwesen mit langen Schnauzen und mörderischen Gebissen. Sie alle glotzten Sheila an, die sich plötzlich vorkam wie in einem Gefängnis, ohne daß eine Gittertür dabei war.
Die Kälte strich wie ein Hauch über das Wasser, als sich die Schatten bewegten. Sie beugten sich vor, als wollten sie im nächsten Moment in den Pool eintauchen, was aber nicht geschah, denn sie bildeten anschließend ein Dach über dem Pool.
Es war eine unheimliche und gespenstische Szenerie, mit der Sheila nicht zurechtkam. Sie fror, aber sie wußte nicht, ob es am Wasser lag oder an ihrer Furcht.
Es gab auch eine Innenleiter am Pool. Der Weg nach draußen, den Sheila benutzen wollte. Sie kraulte hin und wollte so schnell wie möglich raus. Weg von den Schatten.
Wenig später schlug sie mit der rechten Hand gegen eine Leitersprosse und klammerte sich daran fest.
Sie hob den Kopf - und sah das Schreckliche.
Eine der Gestalten hielt genau ihren Platz besetzt und war dabei, sich nach vorn zu beugen, um sie zu umfassen. Riesige dunkle Arme, breite Schultern, ein fellbedeckter Tierkörper, ein Gesicht, das keines war, sondern eine in die Breite gezogene Fratze mit mörderischen Zähnen.
Da komme ich nicht raus! dachte Sheila, da nicht.
Sie stieß sich von der Leiter ab und wuchtete sich wieder in das Wasser. Als sie auftauchte, schrie sie los!
***
Und dieser Schrei hatte uns alarmiert!
Ich war wie ein Blitz gestartet und hörte noch immer Bills Flüche, denn er beschwerte sich über seine verfluchte Schwäche, die ihn nicht so schnell handeln ließ.
Er wollte sich vom Bett wälzen; er wußte, daß es um Sheila ging, ich aber konnte auf ihn nicht warten. Wie ein Schatten eilte ich durch die Wohnung und in den Garten, wo ich an der breiten Front mit der im Boden versenkten Scheibe für einen Moment stehenblieb, um zu sehen, was geschehen war.
Ich sah den Pool, das schwappende Wasser darin. Ich sah auch Sheila, wie sie Wasser trat, und ich sah die - ungewöhnlichen Schatten, die den Pool von allen Seiten umrahmten und über ihm ein regelrechtes Dach gebildet hatten.
Schatten, Gestalten, Dämonen?
Gräßlich waren sie anzusehen. Monstren, wie sie auch die Phantasiewelt eines wahnsinnigen Malers hervorbringen konnte. Das alles kam hier zusammen, und Sheila traute sich nicht mehr, den Pool zu verlassen.
Wer immer hier angegriffen hatte, ich würde mir diese Monstren vornehmen, doch dazu kam es nicht mehr. Kaum hatte ich die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, als sich die Gestalten oder die Schatten plötzlich bewegten.
Von verschiedenen Seiten glitten sie aufeinander zu, um dort einen Mittelpunkt über dem Wasser zu bilden. Er blieb nicht ruhig, die Gestalten veränderten sich lautlos, und aus diesen einzelnen Teilen baute sich ein neues Wesen auf.
Das kannte ich!
Es war der Schatten, der Begleiter, wie auch immer. Nur diesmal um einiges vergrößert, immens gewachsen, ein düsteres, grauschwarzes Scheusal, dessen Hand die Klinge eines Messers umspannte. Es hatte ebenfalls seine Proportionen verändert und wirkte nun wie eine Lanze, die als schräges, dunkles Bild nach unten stach.
Der Begleiter schwebte genau über dem Pool. Ich befürchtete, daß er nach unten stoßen und Sheila töten konnte, aber er zog sich plötzlich zurück und tauchte ein in den Himmel und ebenfalls in das flirrende Licht im Westen.
Dann war er weg.
Ich blieb dort stehen, wo die Außenleiter hochführte. Sheila bewegte sich schwimmend auf die andere Seite zu. Ich hörte sie keuchen, dann kletterte sie die Sprossen der Innenleiter in die Höhe. Ich tat das gleiche von außen, reichte ihr die Hand und half ihr aufs Trockene. Sie ging gebückt, hatte mir das Gesicht zugewandt, und in ihren Augen stand noch die Furcht vor dem Erlebten. Das Wasser perlte von ihrem Körper. Zitternd sprang sie zu Boden. Ich fing sie auf, und Sheila drückte sich an mich. »Mein Gott, John, was war das?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Es wurde plötzlich kalt, als hätte jemand die Tür eines Eiskellers geöffnet…«
»Okay, Sheila, du lebst, bist nicht verletzt. Wir reden im Haus darüber.«
»Ja.« Sie drückte sich wieder von mir weg. Ihr fiel auf, daß sie oben ohne dastand, wurde rot, drehte sich um und lief
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