0925 - Blutzoll
gesehen, wie es die Körper verlassen hat. Es war schrecklich. Manchmal tropft es aus der Decke, es fällt auch von den Balken herab, und ich warte immer darauf, daß auch ich getötet werde.«
»Darf ich deinen Namen erfahren?«
»Als ich noch normal lebte, da hat man mich Eric Canetti genannt, aber das ist lange her.«
»Gut, Eric, ich bin John. Und ich denke, daß wir zusammenhalten sollten.«
»Aber du hast einen Schatten!« rief er.
»Na und? Was soll das? Wir können trotzdem ein Team bilden, denn ich möchte, daß du mir hilfst.«
»Wobei denn?«
»Das ist ganz einfach. Ich möchte ebenfalls in die Welt der Schatten, denn ich bin auf der Suche nach zwei Freunden, die dort gefangengehalten werden.«
Eric schaute mich erschreckt an. »Du willst hinein? Du willst freiwillig hinein? Wie auch die anderen, die in den Tod gegangen sind?«
»Ja. Aber ich möchte nicht sterben.«
»Das geht nicht.«
»Wie ist es mit dir?«
»Ich habe es auch nicht geschafft, aber ich will es ja auch nicht. Ich fürchte mich davor und…«
»Wo sind sie aufgebaut? Wann werden sie gebaut…?«
»Unten in den Zimmern. Alles gehört ihm. Er spielt damit. Er holte sie wieder aus dem Totenbuch hervor und läßt sie entstehen. Wer sie sieht, der ist verloren, denn er will gern hineingehen. Er wird von ihnen angezogen, weiß aber nicht, daß es eine Falle ist. Ich bin in der Nacht hier erschienen, weil ich darauf warte, daß ich meinen Schatten zurückbekomme oder in die andere Welt für alle Zeiten hineingezogen werde. Aber man läßt mich nicht, man hält mich gefangen, ich muß leiden, ich muß den Blutzoll entrichten. Ich bin gefangen, und ich weiß jetzt, daß ich mich nie so weit hätte wagen dürfen.«
»Aber du hast jemanden gehabt, dem du vertrautest.«
»Ich? Nein, ich…«
»Paul Sibelius…«
»Du kennst ihn?«
»Er starb hier, wo du sitzt.«
»Nein! Nein!« schrie er. »Das ist nicht möglich!« Er schüttelte den Kopf und schluchzte. »Aber er hat es hinter sich, im Gegensatz zu mir. Ich muß auch weiterhin leiden.«
Ich wartete, bis Eric sich erholt hatte und fragte dann: »Kannst du mir das Tor zur anderen Welt nicht öffnen?«
Eric blieb stumm. Wahrscheinlich vor Überraschung, denn damit hatte er nicht gerechnet. »Ich soll das Tor öffnen?« flüsterte er nach einer Weile.
»Wenn du es kannst.«
»Wie denn?«
»Hast du mir nicht erzählt, daß du noch mit deinem Schatten in Verbindung stehst und deshalb leiden mußt, wenn er dieses Schreckliche tut und die Menschen umbringt?«
»Ja, das ist wahr, aber ich kann doch nicht - ich kann ihm nichts befehlen. Er tut, was er will.«
»Und er hat die Welten aufgebaut?«
»Das hat er.«
»Schön.« Ich lächelte, tat harmlos, obwohl ich voller Spannung steckte. Eric schaute zu, wie ich auf ihn zukam. Er war auch irritiert, als ich meinen Arm ausstreckte und ihm die Hand entgegenhielt.
Noch griff er nicht zu. Er duckte sich. Sein Oberkörper war schmal, beinahe schon knochig, und sein Kopf fiel deshalb auf, weil er im Verhältnis zum Körper zu groß war.
Ich hielt ihm die Linke entgegen. Die rechte Hand steckte in der Tasche und umfaßte das Kreuz, dessen Strahlung unverändert blieb. »Wir können es versuchen, Eric, bitte.« Ich winkte mit den Fingern. »Es ist ganz einfach, wirklich…«
Er zweifelte, was ich seiner Mimik entnahm. Die dünne Haut dort zuckte, er zerrte die Lippen noch mehr in die Breite, bewegte dann seinen linken Arm und wischte mit der Handfläche über den Körper hinweg, bevor er die Finger vorstreckte.
»Es geht alles in Ordnung!« flüsterte ich ihm zu. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.«
»Was willst du tun?«
Meine Antwort klang ehrlich. »Im Endeffekt möchte ich dir deinen Schatten wieder zurückgeben. Nichts anderes habe ich vor, und ich möchte auch die anderen verfluchten Welten zerstören. Sie sollen keine Menschen mehr als Opfer bekommen.«
»Ja, das stimmt.«
»Deshalb werden wir sie herholen. All die Zeichnungen, die von deiner Hand stammen. Du bist der Schöpfer. Du darfst sie dir von deinem Schatten nicht wegnehmen lassen, ob sie nun als Welten existieren oder nicht. Du sollst nicht länger leiden.«
Er atmete heftig. Der säuerliche Geruch, der aus seinem Mund strömte, schlug auch gegen mein Gesicht, aber ich ignorierte ihn. Dafür senkte ich den Kopf und schaute auf seine Hand.
Plötzlich griff sie zu. Unsere beiden linken Handflächen klatschten zusammen. Die Finger bewegten sich, sie hakten
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