0925 - Blutzoll
an, denn jetzt sah ich, wer von diesem Speicher Besitz ergriffen hatte.
Es war ein Mensch.
Oder…?
Einen Moment zögerte ich noch. Dann ging ich langsam näher. Trotz des schlechten Lichts kristallisierte sich das Bild immer deutlicher hervor und wurde zu einem Happening des Jammers und auch des Grauens…
***
Es war ein Mann, eine Gestalt, ein Leidender. Er stand nicht, er saß, aber er hatte sich auch nicht auf den Boden gehockt, sondern auf den Tisch, auf dem ich das Totenbuch entdeckt hatte. Dort saß er wie ein Häuflein Elend, die dünnen Beine zum Schneidersitz verschlungen, den Rücken rund gemacht, den Kopf nach vorn gedrückt, die Arme hochgestemmt und angewinkelt, wobei er mit beiden Händen seinen Kopf an den Seiten umfaßt hielt und die Finger in seinen Haaren verschlungen hatte.
Mich nahm er nicht wahr, obwohl er mich anschaute. Er war zu stark mit sich selbst und seinem Schmerz beschäftigt. Ob er die Augen völlig geschlossen hielt, konnte ich noch nicht erkennen, zumindest standen sie nicht weit offen. Sie konnten auch nur zu Schlitzen verengt sein, aber das war letztendlich egal.
Er litt.
Er litt wie ein Hund. Er jammerte, stöhnte und greinte. Sein Mund war in die Breite gezogen, die Winkel zuckten, und das Kinn unter den Lippen schimmerte speichelnd.
Ich hatte mich ihm bis auf drei Schritte genähert, war stehengeblieben und wartete zunächst einmal ab.
Mir fiel auf, daß der Mann keinen Fetzen Kleidung am Leib trug. Er war nackt bis zu den Zehen.
Sein Körper hatte zwar nicht die dunkle Haut eines Farbigen, die Haut schimmerte trotzdem anders.
Sie war graublau.
Mich hatte er noch nicht wahrgenommen. Ich sah auch noch keinen Grund, mich bei ihm zu melden.
Ich ließ ihn weiterhin in seinem Schmerz allein und überlegte nur, wer diese Person sein konnte.
Für mich ein Gegner, das lag auf der Hand. Nur machte es mich stutzig, daß er einen normalen Körper hatte, Arme, Beine, einen Leib, einen Kopf und auch ein Gesicht.
Immer wieder zuckte sein Körper. Tränen flossen aus den Augen. Weinkrämpfe schüttelten ihn.
Er war völlig fertig.
Er jammerte weiter.
Ich hielt mich noch zurück, aber ich legte für einen Moment meine Hand gegen das Kreuz.
Es hatte sich weiter erwärmt…
In diesem Augenblick bewegte sich die Gestalt. Die Arme ließen das Gesicht los. Sie sanken sehr schnell nach unten und klatschten dabei gegen den Körper.
Dann schaute er mich an.
In seinen Augen leuchtete es nicht. Kein Funke des Erkennens, aber auch keine Abwehr. Er wirkte völlig neutral.
Ich hoffte, daß er sprechen konnte und stellte ihm leise die erste Frage.
»Wer bist du…?« Meine Worte klangen aus. Sie schienen an ihm vorbeizugleiten, und ich versuchte es erneut. »Wer bist du?«
Sein Mund schloß sich, aber er öffnete sich wieder, und ich hörte die flüsternde Antwort. »Ich bin der Mann, der seinen Schatten abgab…«
***
Mit dieser Antwort hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet, und ich dachte darüber nach, ob es nun des Rätsels Lösung war. Hinter dem mordenden Schatten war ich her gewesen, aber ich hatte nicht ihn gefunden, sondern den Mann, dem der Schatten gestohlen worden war oder der ihn abgegeben hatte.
Es gab das Märchen von einem Mann, der seinen Schatten an den Teufel verkauft hatte und damit auch seine Seele. War es bei dieser Person ähnlich gewesen?
Ich wußte es nicht - noch nicht, ging aber näher und nickte ihm zu. Er blieb auf dem Tisch sitzen, die Arme hingen jetzt an beiden Seiten des Körpers nach unten, die Hände lagen auf der Tischplatte, und er hörte meine Frage. »Man hat dir den Schatten gestohlen?«
»Ja.«
»Wer tat es?«
»Jemand, der in der Schattenwelt herrschte.«
»Kennst du ihn?«
»Nein, er ist dunkel. Er hat eine gewaltige Welt. Ich habe ihm meinen Schatten gegeben…«
»Warum?«
»Er wollte es so. Er hat mir die größten Geheimnisse versprochen. Ich habe immer wieder versucht, mit den anderen Mächten Kontakt aufzunehmen. Ich bin in die Sitzungen der Magier gegangen, um Erfahrungen zu sammeln und auszutauschen, aber mich hat er ausgesucht. Der Herrscher in der Schattenwelt. Ich hörte seine Stimme, er wollte das Experiment, und auch ich wollte es…«
»Was genau?«
Er seufzte, weinte aber nicht mehr, riß sich zusammen und sprach dann weiter. »Er wollte erfahren, wie es ist, wenn ein Mensch einen Schatten abgibt. Ob der Schatten noch so reagiert wie der Mensch.«
»Gut, sehr gut. Hat er denn so
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