0928 - Der Fliegenmann
sehen, nur eben die verdammten Fliegen.
»Was sagst du jetzt, Jovanka?«
»Ich weiß es nicht.«
Karel Picek kicherte. »Du bist doch selbst daran beteiligt, nicht wahr?«
»Ja, das bin ich.«
»Wo sind sie bei dir?«
Jovanka deutete mit dem Zeigefinger auf sich. »In mir. Ja, sie stecken auch in mir!«
Er ließ das Haar wieder los. Der Kopf sank langsam zurück in die alte Lage und blieb dort. »Bei mir sind sie auch«, wiederholte er.
»Willst du sie sehen?«
»Ja, zeig sie mir.«
Karel knöpfte seinen halblangen Kittel auf. Darunter trug er nur ein ärmelloses Unterhemd, von dem auch nicht viel zu sehen war, denn die Fliegen hielten seinen Oberkörper besetzt und hatten dort ebenfalls einen dunklen Teppich hinterlassen. Es sah so aus, als hätte sich der Mann einen Pullover übergestreift.
»Was sagst du nun, Jovanka?«
Sie schwieg, hob die Schultern, schüttelte den Kopf, nahm es aber hin und hatte sich erst nach einer Weile entschlossen, da war der Kittel schon wieder zugeknöpft, eine Frage zu stellen. »Hast du den Mann auch gesehen, Karel?«
»Du meinst den Nackten?«
»So ist es.«
»Er war hier.«
Jovanka nickte. »Auch ich sah ihn inmitten der Fliegen. Er fühlte sich dort sehr wohl.«
»Er ist ihr Herr!« erklärte der Kaufmann mit Flüsterstimme. »Ja, er ist ihr Herr.«
»Der Fliegenmann…«
»Auch das.«
»Und er ist die Angst«, raunte sie, als wollte sie den eigenen Worten noch mehr Bedeutung verleihen. »Er hat mir gesagt, daß er die Angst ist, und ich glaube ihm. Er ist die Angst, er bringt das Grauen, denn irgendwann sind wir Menschen nicht mehr auf diesem Erdball, aber dann wird er noch sein. Er und seine Insekten.«
Picek nickte. »So sehe ich es auch. So und nicht anders, meine Freundin.«
»Und was sollen wir tun?« fragte sie.
Der Kaufmann hob die Schultern. »So leben wie bisher und auf ihn warten.«
»Kommt er denn?«
»Ja, am Abend, in der Dunkelheit. Dann werden wir die Invasion der Fliegen erleben, ich freue mich schon darauf. Ich will ebenfalls zu einer Fliege werden.« Er fing an zu lachen und hörte abrupt auf, weil er die Stimme eines Kunden aus dem Laden hörte.
»Ich muß wieder bedienen.«
»Ja, geh.« Jovanka blieb noch bei Anna. Sie schaute sie an und überlegte, ob sie versuchen sollte, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Doch Anna rührte sich nicht. Sie blieb in ihrer gebeugten Haltung hocken, den Kopf noch immer gesenkt und zu Boden starrend, wobei das nicht stimmte, denn auch die Augen waren durch die Anwesenheit zahlreicher Fliegenkörper verklebt worden.
Jovanka überlegte, ob sie mit Anna Mitleid empfinden sollte. Sie wußte es nicht, sie sprach sie auch nicht mehr an, denn sie war ihr gleichgültig geworden. Die letzten Stunden hatten sie zu einer Egoistin werden lassen. Es ging einzig und allein um sie und natürlich um den Mann, der im Hintergrund wartete.
Der Nackte.
Der Fliegenmann.
Oder war Anna tot?
Die alte Frau wollte es genau wissen und faßte sie an. Das Gesicht war bedeckt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Hand auf den Arm zu legen.
Die Haut fühlte sich normal an. Aber sie kam ihr weich vor, als wären irgendwelche Wesen dabei, sie von innen her aufzufressen.
Als dieser Gedanke über sie kam, zuckte ihre Hand zurück. Plötzlich dachte sie daran, daß ihr das gleiche Schicksal bevorstehen könnte. Von innen zerfressen zu werden.
Scheußlich…
Der stickige, enge Raum war für sie zu einem Horror-Kabinett geworden. Nur raus hier. Weg aus dem Geschäft. Hinaus auf die Straße, andere Luft atmen.
Karel Picek bediente eine Frau, die Wasser kaufte. Sie bewegte sich langsam und stellte die Flaschen in einen Korb. Jovanka blieb stehen und beobachtete sie. Dabei überlegte sie, ob die Frau wohl auch von dieser Fliegenplage erfaßt worden war. Zu sehen war jedenfalls nichts. Die Fliegen, die durch den Laden turnten, bewegten sich ziemlich normal. Sie zeigten kein besonderes Interesse an den Menschen.
Picek hatte Jovankas Kommen bemerkt. Er lächelte ihr zu. Sie nickte zurück und kam sich dabei vor wie eine Verschwörerin. Als sie auf die Tür zuging, entdeckte sie Joseph. Er hockte auf einer kleinen Leiter und schaute zur Decke, denn über ihm krabbelten einige Fliegen und bewegten sich auf einen dieser klebrigen Fliegenfänger zu, die wie eine gelbbraune Spirale von der Decke hingen. Für Fliegen und anderes ähnliches Getier waren diese Fänger tödliche Fallen. Einige hatten bereits ihr Leben ausgehaucht und hingen
Weitere Kostenlose Bücher