0934 - Der Arm des Monsters
der einarmige Blinde bewegte.
Plötzlich war ein Ruck durch seine Gestalt gegangen. Er hatte sich auf seinem Sessel gedreht, und er saß jetzt so, daß er nach rechts schauen konnte, wo sich die Tür befand. Er machte den Eindruck, als wollte er aufstehen, aber er blieb noch in seiner Haltung und ließ nach wie vor den rechten Arm auf der Lehne liegen. In seinem Gesicht zeichnete sich auch keine Spannung ab, er atmete nicht, weil er schon tot war, und trotzdem brachte diese Reaktion eine Botschaft herüber, die beide Frauen erschreckte.
Aus dem dunklen Garten hinter dem Haus näherte sich nichts. In Nähe der Zimmertür mußte etwas passieren, aber zu sehen war nichts.
Beide Frauen spürten die Spannung, die noch anhielt, und beide hielten auch den Mund.
Sie warteten. Die Sekunden vergingen. Noch waren keine Geräusche zu hören.
Die Stille drückte, sie war belastend, und sie wurde plötzlich unterbrochen. Die Geräusche waren nur deshalb zu hören gewesen, weil es eben so unheimlich still war.
Jemand war an der Tür, schien einen Schlüssel in das Schloß zu stecken und umzudrehen.
»Da ist jemand!«
Angela hatte die drei Worte ausgestoßen. Vorbei war es mit ihrer gekünstelten Ruhe. Plötzlich stand sie unter Strom. Sie mußte sich zusammenreißen, um im Sessel sitzen zu bleiben. Ihre Lippen zuckten, sie öffnete den Mund. Jane befürchtete, daß sie schreien würde, war schnell bei ihr und legte ihr einen Finger auf die Lippen.
Angela nickte. Sie hatte begriffen und blieb still. Jane huschte lautlos in den toten Winkel der Tür und wartete dort.
Die andere wurde zugestoßen, das war deutlich zu hören. Jemand kam.
Die Person schien guter Laune zu sein und summte vor sich hin.
Auf Angelas Gesicht malte sich ein wissender Ausdruck ab. Sie kam noch nicht dazu, es auszuplaudern, was auch nicht nötig war, denn Sekunden später betrat ein Mann das Zimmer. Das Summen hörte auf.
Es wurde still, und in diese Stille hinein erklang Angelas Flüstern.
»Dorian - Himmel - Dorian! Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst in Schottland…«
***
Der Schmerz kam plötzlich. Er war wuchtig, hart und brutal. Mein Bein ist zerfetzt, dachte Shao und spürte, wie es ihr weggerissen wurde, als wäre es in Höhe der Knie in zwei Teile geschlagen worden. Sie hatte an der rechten Seite keinen Halt mehr und schaffte es nicht, auf einem Bein zu stehen. Sie fiel hin. Durch ihren Kopf zuckten Bilder einer zerschossenen Kniescheibe, obwohl sie nicht genau wußte, ob sie in der Mitte getroffen worden war.
Auf dem Rücken blieb sie liegen. In einem Reflex hatte sie versucht, das rechte Bein anzuziehen, und sie wunderte sich darüber, wie gut das noch klappte, trotz der Schmerzen. Sie legte eine Hand auf das Knie und war froh, daß es noch vorhanden war und sie zwischen den Fingern keine Hautfetzen und Knochensplitter fühlte.
In ihrer Lage konnte sie nach vorn schauen, und sie sah den Mann, wie er auf sie zukam. In der rechten Hand hielt er die Waffe, mit der er geschossen hatte.
Es war eine Pistole oder ein Revolver gewesen. Zumindest von der Form her. Nur war diese Waffe klobiger, vielleicht auch unhandlicher, aber sie hatte auf ihre Art und Weise die Wirkung zuerst bei Suko und nun bei Shao demonstriert.
Der Mann im langen Mantel blieb vor Shao stehen. Er schaute sie an und sagte mit leiser Stimme: »Ich warte noch auf eine Antwort, Lady. Wer ist es? Wer ist die Frau, die du besuchen wolltest?«
Das Knie schoß Schmerzwellen ab. Nein, nicht nur das Knie. Das ganze Bein schien in Flammen zu stehen. Shao hatte das Gefühl, als würde das Bein jeden Augenblick von ihr abfallen, weil es mit dem übrigen Körper nichts mehr zu tun haben wollte.
»Wer ist es?«
»Ich - ich kann nicht reden. Die Schmerzen - mein Knie…« Sie wimmerte, ohne nach oben zu schauen.
Der Mann bückte sich. Er packte Shao und zerrte sie hoch. »Nicht reden können, wie? Willst du mich verarschen? Du hast doch gerade geredet, verdammt?« Er hatte seine relative Ruhe verloren und war wie von Sinnen. Mit beiden Händen hielt er Shao fest, aber dabei blieb es nicht.
Er schüttelte sie durch, Und dann, er sah schon aus, als wäre es ihm lästig, wuchtete er sie von sich weg.
Shao segelte durch die Luft. Halt fand sie keinen mehr, deshalb ruderte sie mit beiden Armen. Aber der Stoß war zu hart geführt worden. Sie fand keinen Halt mehr und segelte zum Glück in die harten und dicht beisammenstehenden Zweige eines Büschs hinweg, der zwar
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