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0941 - Das unheile London

0941 - Das unheile London

Titel: 0941 - Das unheile London
Autoren: Adrian Doyle
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Pferdeschnauben oder Hufschlag mehr.
    Er schien Stunden dazusitzen, und es war Nacht, als er sich schließlich wieder aus dem Gestrüpp heraus wagte. Sterne glitzerten am Himmel. Der Mond, zu drei vierteln gefüllt, warf bleiches Licht. Tau lag auf dem Gras. Es war empfindlich kühl geworden, und Lance merkte, dass er fast umkam vor Hunger und Durst. Vor allem Durst.
    Mit steifen Gliedern bewegte er sich durch den fahl erhellten Park. Jedes Geräusch von umherstreunendem Getier ließ ihn zusammenzucken. Er suchte die Richtung, in der der Ausgang des Parks lag. Er wollte nur heim. Irgendetwas ging hier schief, irgendetwas kratzte an den Pfeilern seines Weltbildes.
    Insgeheim wusste er längst, dass es für das, was er gerade durchmachte, keine logische Erklärung gab. Und dass er - wahrscheinlich - so lange herumirren und suchen konnte, wie er wollte, er würde den Heimweg nicht finden, weil…
    ... es sein Zuhause nicht mehr gab.
    Er hatte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Einkerkert in einer Weise, wie vor ihm noch kein Mensch. Weil es so war, als würde er sein Gefängnis auf jedem Schritt, den er machte, mitnehmen . Es begleitete ihn überallhin, er bewegte sich nur scheinbar frei.
    Ihm war schlecht. Sein Schädel brummte, als wären seine Gedanken in einen Bienenstock gepresst worden. Und da waren überall Stachel, ein Schmerz in Körper und Geist, wie er ihn noch niemals gespürt hatte, nicht einmal am Tag der Beerdigung seiner Eltern.
    Lance Eisenhuth taumelte durch die mondhelle Nacht.
    Wo bin ich? Was habe ich verbrochen, dass ich hier sein muss?
    Vor ihm zerriss eine Haut, die zwei Zeiten voneinander trennte.
    Und der spitze Schrei einer Frau ließ ihn erstarren.
    ***
    Sie trug eine Maske.
    Karneval , zuckte es in Eisenhuth auf. Karneval in Venedig , fügte er hinzu, als er die an einem Griff vor das Gesicht gehaltene Porzellanmaske näher betrachtete. Sie verhüllte die schiefen Züge dahinter nur unzulänglich. Wäre das echte Gesicht auch nur annähernd so zart und symmetrisch gewesen, wie das Porzellan es vorgaukelte, die Lady wäre von berückender Schönheit gewesen.
    Leider war die Maske der Realität hoch überlegen.
    »Woher… woher kommt Ihr, mein Herr?«
    Die Stimme wiederum schien ein Bestandteil der Maske zu sein. Sie passte perfekt dazu, war auf ihre Weise unendlich rauchig und verführerisch.
    Lance musste sich innerlich zur Räson rufen, um sich nicht davon manipulieren zu lassen. Aber es war, als würde die Fremde lange unterdrückte Saiten in ihm freilegen. Schicht um Schicht, wie die Schalen einer Zwiebel.
    Er wollte es nicht, aber er bekam eine Erektion. Und auch in den Kopf schoss ihm das Blut. Er errötete.
    »V-Verzeihung?«, stammelte er.
    »Wir sind Verwandte im Geiste«, sagte die Frau hinter der Maske und schob das Porzellan ein Stück weit beiseite. Der schiefe Mund wurde zur Hälfte sichtbar, er war zu einem Lächeln verzogen, das Eisenhuths Erregung sofort wieder verpuffen ließ. »Ihr liebt es auch, euch zu verkleiden - so wie ich. Aber ihr könnt auch Kunststücke. Wie habt Ihr das gemacht? Plötzlich wart Ihr da - wie hingezaubert.«
    Sie hatte ihn also auftauchen sehen - so plötzlich, quasi aus dem Nichts heraus, wie der Wechsel der Umgebungen erneut für Lance stattgefunden hatte.
    »Sie müssen sich täuschen.« Lahm und kraftlos, mit wenig Überzeugungskraft, kamen die Worte aus Eisenhuth. »Wo bin ich hier?« Und wohin strömen all die Leute? , hätte er am liebsten hinzugefügt.
    Es war tatsächlich so. Die hübsch und adrett angelegten Wege zwischen dem Grün waren voller scherzender Leute, die alle in dieselbe Richtung strebten, und nicht wenige von ihnen waren auf diese eine oder andere Weise verkleidet, so als sei es hier und heute Brauch.
    Nur - wo genau lag dieses Hier und Heute?
    Lance fragte sich mehr und mehr, in welchem Truggebilde er sich verfangen hatte. Was war passiert? Hatte er die Wohnung am Piccadilly gar nicht verlassen? In letzter Zeit hatte er angefangen, mit synthetischen Drogen zu experimentieren. Sie waren leicht zu bekommen, zu leicht. Fast an jeder Straßenecke lungerten Gestalten herum, die für ein paar Pfund einen unvergesslichen Rausch garantierten. Lance hatte es mit Alkohol versucht, aber dann war er mit eingenässter Hose im Sessel vor dem Fernseher wach geworden, weil er sich im Suff eingebildet hatte, zur Toilette zu gehen und dort seiner Notdurft nachzukommen. Leider war das nicht wirklich der Fall gewesen, und er hatte sich so
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