0941 - Echsenauge
hob nur die Schultern. »Wir tun, was wir können. Sie werden sich melden, Mr. Sinclair.«
»Ja.«
Bevor er die hintere Tür schloß, fragte er: »Werden Sie denjenigen, der das getan hat, noch in dieser Nacht suchen? Gibt es überhaupt schon Spuren?«
»Sicherlich, man muß sie halt finden.«
»Viel Glück.« Er schloß die Tür, einer seiner Helfer startete den Motor, dann setzte sich der Wagen in Bewegung. Das blaue Licht drehte sich auf dem Dach, aber die Sirene war nicht eingeschaltet. Es kam mir trotzdem gespenstisch vor, wie er in der Dunkelheit verschwand und seine Heckleuchten verglühten.
Ich ging nicht wieder zurück in das Haus, sondern zu meinem Fahrzeug. Der Zoo hatte geschlossen.
Das Reptilienhaus sicherlich auch, aber ich konnte beinahe davon ausgehen, daß dies für eine Person wie diese Deliah kein Hindernis war.
Ich würde ihn also zum zweitenmal an diesem Tag besuchen. Noch immer hatte ich das Bild nicht vergessen, als diese Person zu den Krokodilen in den Teich gestiegen war und mit ihnen gespielt hatte. Ich dachte auch an die Verletzungen des Mannes. Sie waren ihm von einer Kralle beigebracht worden, als hätte ein Krokodil seine Klaue über seinen Rücken gezogen.
Als ich daran dachte, schüttelte ich mich.
***
Eine nackte Frau huschte durch die Dunkelheit wie ein hüpfender und schnell springender Schatten.
Deliah war es gelungen, gerade zum richtigen Zeitpunkt zu entwischen. Sie hatte sehr genau gespürt, daß jemand in das Haus eingedrungen war, vor dem sie sich vorsehen mußte. Zu Gesicht bekommen hatte sie ihn nicht, aber die Warnung war nicht in ihrem Kopf erfolgt, sondern von ihrem Augen ausgegangen. Eine Botschaft, die nur für sie verständlich gewesen war.
Jemand wollte ihr an Leib und Leben. Jemand war ihr auf den Fersen, und es war gut gewesen, daß sie sich ihm nicht zum Kampf gestellt hatte. Sie brauchte eine Vorbereitung, sie mußte sich auf ihn einstellen. Er hatte sie gestört, sie war nicht dazu gekommen, sich weiterhin mit diesem schrecklichen Mann zu beschäftigen. Er lebte noch, das spürte sie mit sicherem Instinkt.
Sie huschte durch eine Gegend, die von zahlreichen Hügeln beherrscht wurde. Erdaufwürfe, wie sie typisch für ein noch nicht bezogenes Neubaugebiet waren.
Die Schatten schnappten zu. Sie fielen über sie hinweg. Sie brauchte kein Licht, sie war auch so schnell genug. Mit langen Schritten eilte sie voran.
Daß sie nackt war, störte sie nicht. Auch die Kälte konnte ihr kaum etwas anhaben, denn sie befand sich unter dem Schutzschild eines besonderen Helfers.
Sehr vorsichtig brauchte sie nicht zu sein. Der Mann verfolgte sie nicht. Wäre er ihr auf den Fersen, hätte sie das Auge gewarnt, auf das sie während des Laufens immer wieder schaute. Es blieb völlig normal in ihrer Hand. Es zuckte nicht, es zog sich nicht zusammen, es strahlte keine Botschaft aus, aber sie wußte auch so, wie sie sich zu verhalten hatte. Deliah wollte dorthin, wo sie sich am sichersten fühlte. Zurück in ihren Zoo, zu den Tieren, denn dort würde sie niemand suchen, auch nicht ihr Verfolger.
Während sie noch immer durch das dunkle Industriegebiet hastete und jede Laterne mied, drehten sich ihre Gedanken wieder um diesen Mann. Sie kannte ihn nicht direkt oder persönlich, aber sie glaubte daran, ihn indirekt zu kennen.
Irgend etwas war mit ihm. Sie hatte ihn schon einmal gesehen und auch gespürt auf eine besondere Art und Weise. Es lag noch nicht lange zurück, nicht mal einen Tag, einige Stunden höchstens, das war alles.
Gut, sehr gut.
Er würde ihr schon noch über den Weg laufen. Alle guten Dinge waren drei, also konnte es durchaus sein, daß sie sich in kurzer Zeit über den Weg laufen würden.
Im Zoo? Im Käfig? Bei ihren Freunden?
Deliah Narawi schnalzte mit der Zunge. Sie freute sich plötzlich. Sie würde weiterlaufen, auch nackt, und sie würde sehr bald in die bullige Wärme des Reptilienhauses eintauchen. Hineinzukommen war kein Problem. Sie wußte, wo die Schlüssel lagen, auch die Ersatzschlüssel, und sie würde die Türen auf keinen Fall schließen. Schließlich wollte sie es ihrem Verfolger nicht unbedingt schwermachen, wenn er allein in den Tod lief…
***
Allein in den Tod!
Daran dachte ich nicht, als ich wieder hinter dem Steuer des Rovers saß und zunächst einmal nachdachte, während der Wagen langsam durch das menschenleere Industrieviertel rollte, wie geführt vom hellen Licht der Scheinwerfer.
Der Zoo war groß. Ich kannte ihn.
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