0953 - Der Fluch von Eden
hindurch.
Entsetzlicher hätte der Vorfall nicht verlaufen können - obwohl Nele unentdeckt blieb.
Ein Geist. Allmächtiger im Himmel und auf Erden - was ist aus mir geworden? Ich bin nur noch ein Gespenst.
Zum ersten Mal zog sie in Betracht, dass sie längst gestorben war und sämtliche Ereignisse seit ihrem »Erwachen« in Wenzels Haus nur geträumt hatte.
***
Für eine ganze Weile war sie zu keiner Reaktion mehr fähig. Sie stand einfach nur da, hatte das Gefühl, den Boden unter sich als festen Halt zu spüren - und doch gingen ein ums andere Mal Schankgäste durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da. Sie stellte kein Hindernis dar, nicht einmal einen merklichen Widerstand.
Wie ging das zu?
Endlich überwand sie ihre Lähmung - und machte die Probe aufs Exempel. Sie trat hinter die Theke und griff wahllos nach einem gebratenen Stück Fleisch, das lieblos in einen Napf drapiert war. Sie wollte es unbedingt zu fassen bekommen - und bekam es auch. Ihre Finger schlossen sich um den vorstehenden Knochen der Keule, und sie holte das ganze Stück zu sich heran. Es war schwer, wog mindestens drei Pfund. Aber für Nele war es keine Anstrengung, die ihr missfiel, im Gegenteil. Sie genoss das Gefühl, etwas so Festes und Schweres in ihren Händen zu halten.
Doch kein Geist. Aber…
Plötzlich spürte sie etwas wie einen bohrenden Blick, der auf ihr ruhte.
Schnell blickte sie über die Schulter.
Aber niemand schien sie zu beachten. Alles ging seinen Gang - bis auf eine Kleinigkeit.
»Wo zur Hölle ist die Keule hin?«, schnaubte der Wirt, der plötzlich hinter ihr und halb in ihr stand. »Sie lag doch eben noch da!«
Er hatte ein Organ, das wie nahes Gewittergrollen klang.
Nele versuchte sich vorzustellen, wie er das Fleisch gleich entdecken würde - von unsichtbarer Hand gehalten, scheinbar in der Luft schwebend.
Doch nichts geschah. Abgesehen davon, dass er wie von der Tarantel gestochen auf und ab ging und nacheinander Gäste seiner Schenke beschuldigte, sich die Keule angeeignet zu haben, ohne dafür mit Heller und Pfennig bezahlen zu wollen.
Er sieht nicht nur mich nicht, die Übeltäterin, sondern auch mein Diebesgut nicht, dachte Nele. Sie hatte nach wie vor keine Vorstellung, was überhaupt sie in die Lage versetzte, sich vor anderer Augen unsichtbar zu machen und deren Blick zu entziehen.
Noch unerklärlicher war nun für sie, dass auch Dinge, die sie berührte, für Außenstehende scheinbar zu existieren aufhörten.
Sie wollte sie mit ihrer Beute davonmachen, ergriff im Gehen aber noch einen vollen Krug, in dem sie Wasser vermutete…
... und blieb dann doch wieder stehen, weil ... da wieder dieses Gefühl war.
Das Gefühl, angestarrt zu werden.
Diesmal drehte sie sich nicht in die Richtung, aus der sie die Blicke zu spüren meinte, sondern beobachtete die Stelle aus den Augenwinkeln.
Und tatsächlich: Da war ein Augenpaar, das genau auf sie schaute!
Nele eilte erschrocken zur Tür, die zum Hof hinaus führte, der den Gästen offenbar dazu diente, ihre Notdurft zu verrichten. Aber bevor sie hinauseilte, warf sie noch einen langen musternden Blick zu dem Halbwüchsigen, der dort wie ein Häuflein Elend still zwischen laut schwadronierenden Männern saß, die ihm keine Beachtung schenkten.
Er lächelte, als sich ihre Blicke begegneten.
Nele erwiderte den stummen Gruß scheu. Dann war sie hinaus.
Noah und Julius warteten bereits ungeduldig. Umso freudiger wurde ihre Miene, als sie sah, was ihre große Schwester ihnen da herbeischleppte.
Zu dritt machten sie sich über die Keule her, und obwohl sie vor den jüngsten Geschehnissen nie wahre Not kennengelernt hatten, mundete ihnen das schlicht über offenem Feuer gegarte Fleisch besser als jedes Gericht, das ihnen Agnes oder ihre Mutter vorgesetzt hatten.
Nur der Inhalt des Krugs entpuppte sich als kleines Problem. Doch Nele sprang über ihren Schatten und ließ zu, dass sowohl ihre jüngeren Brüder als auch sie selbst nach dem frugalen Mahl Trost in dem sinnesberauschenden Gebräu suchten, das sie aus Versehen mitgebracht hatte.
Sie hatte nie zuvor Met probiert. Aber der stark vergorene Honigwein schmeckte schon beim ersten Schluck ganz wunderbar. Und auch die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.
***
Nele erwachte mit dumpfem Stechen im Kopf. Die beiden Jungs lagen eng an sie geschmiegt hinter der Hecke im Hof der Schenke, wo es ruhig geworden war. Die letzten Zechkumpane mussten längst den Heimweg angetreten haben, das
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