0959 - Der Fallbeil-Mann
ein starkes Stück. Im Moment verstand ich die Welt nicht mehr, und das sah mir die Frau an. »Sie sind der Fehler gewesen, Mr. Sinclair. Ihr Erscheinen war sein Todesurteil. Der Henker hat sich um den Lord nie gekümmert, doch er beging den Fehler, jemanden zu holen, der den Henker vernichten sollte.«
»Na und? Sollte das Morden denn so lange weitergehen, bis niemand mehr vorhanden war? Hätte dieser Fallbeil-Mann das gesamte Kloster entvölkern sollen?«
»Ich weiß es nicht«, gab die Oberin zu. »Irgendwann hätten wir ihn schon überwunden.«
Auch wenn ein Toter in der Nähe lag, ein Lachen konnte ich mir trotzdem nicht verbeißen. »Sie hätten es also in Kauf genommen, daß zahlreiche ihrer Schwestern sterben.«
»Es ist das Schicksal gewesen. Wir haben die schwere Last eben tragen müssen.«
»Aha, so ist das. Und was hat dieser gefesselte Zombie damit zu tun? Spielt er eine Rolle in dem Fall?«
»Es ist Carlos.«
»Einen Namen hat er auch? Wie schön.«
»Er ist tot, aber er kann nicht sterben. Ebenso wie der Fallbeil-Mann.«
Die Oberin sah aus, als würde sie zusammensacken. Sie wirkte jetzt wie eine alte Frau, die sich aufgegeben hatte. Mit müden Schritten ging sie auf einen thronähnlichen Holzstuhl zu, um sich dort hinzusetzen. Ihre Arme legte sie auf die Lehne. Das Gesicht war zur müden Maske geworden. Sie starrte in die Ferne.
»Ich habe nichts begriffen, Oberin, gar nichts. Ist es zuviel verlangt, wenn ich um eine Aufklärung Ihrerseits bitte.«
Sie rollte mit den Augen, dann schüttelte sie den Kopf, bevor sie mich anschaute. »Nein, für Sie ist es nicht zuviel verlangt. Sie sind ja erschienen, um dem Morden Einhalt zu gebieten. Aber das wird nicht leicht sein.«
»Kennen Sie den Weg, Oberin.«
Sie überlegte einen Moment. Dabei strichen ihre Handflächen über die Lehnen. »Ja, ich denke schon, daß ich ihn kenne. Aber er ist nicht leicht zu gehen. Er ist dornig und gefährlich. Und er kann in der Hölle enden, Mr. Sinclair.«
»Das ist mein Risiko, daran bin ich gewöhnt. Leider weiß ich zuwenig, wie ich schon erwähnte. Ich denke, wir sollten uns die Zeit nehmen, um über den Fall zu diskutieren.«
»Das hat keinen Sinn. Sie sollen ihn noch lösen.«
Ich nickte ihr zu. »Das versteht sich.«
Die Oberin seufzte. Dann drehte sie den Kopf und schaute zu dem gefesselten Zombie hin. »Um die Gegenwart zu begreifen, müssen wir die Vergangenheit kennen, Mr. Sinclair.«
»Kann ich mir vorstellen, nur ist mir gerade diese spezielle Vergangenheit unbekannt.«
»Das glaube ich Ihnen. Der Lord wird Ihnen kaum etwas erzählt haben. Aber ich kann Ihnen helfen, denn in unserem Kloster, das eine sehr große Rolle gespielt hat, ist alles aufgezeichnet worden, denn die Oberin, die ebenfalls Anna hieß, bekam sogar in diesem Land die Wirren der Französischen Revolution zu spüren, obwohl sie nie nach England überschwappte.«
»Das ist mir bekannt.«
»Wollen Sie zuhören, Mr. Sinclair?«
»Gern.«
»Es ist aber kein Spaß.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich bin auch nicht hergekommen, um zu lachen.«
»Ja, ich weiß«, sagte sie und holte einmal tief Luft. »Ich weiß es sehr gut…«
***
Schwester Annas Erzählungen.
Frankreich brannte im Feuer der Revolution, aber England nicht, doch auch hier befürchtete man den Aufstand der Massen, Plünderungen und Zerstörung. In den Klöstern herrschte große Aufregung. Man war begierig auf jede neue Nachricht vom Festland.
Auch unser Kloster blieb nicht verschont. Mitten in der Nacht traf einer dieser Flüchtlinge ein. Er nannte sich Bucheron und klopfte voller Verzweiflung an die Pforte des Klosters. Die Schwestern gewährten ihm Einlaß, wofür er sich mehrmals bedankte. Man stellte ihm ein Lager zur Verfügung, gab ihm zu Essen und zu trinken, und man schleppte ihm sogar die große Kiste, die er als Gepäck hinter sich hergeschleift hatte, in die Kammer.
Er war der einzige Mann zwischen den Nonnen, und die offizielle Kirche durfte das nicht erfahren. Alles lief im Geheimen ab. Die Oberin verpflichtete ihre Mitschwestern zum absoluten Schweigen, was auch eingehalten wurde.
Der Mann blieb. Nicht nur einen Tag, sondern Wochen und Monate. Er machte sich auch nützlich. Er arbeitete mit im Garten, er half, wo er konnte, denn er war sehr kräftig und sich keiner Arbeit zu schade. Aber er war ein Mann, und er hatte auch Gefühle.
Schon bald kam es zu kleinen Ungereimtheiten. Schwestern beschwerten sich darüber, daß er sich in der
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