096 - Der grüne Leichnam
Irgendwie sah sie völlig hilflos aus, so wie ich sie das erstenmal gesehen hatte, damals vor mehr als vierhundert Jahren.
Das Alraunengeschöpf schwebte über dem Boden. Sie bewegte bittend die Hände und zog sich dann langsam zurück.
„Hekate", flüsterte Coco und schob eine Patrone in die Leuchtpistole.
„Du brauchst nicht schießen", sagte ich. „Das ist nur eine magische Erscheinung."
„Ich weiß. Sollen wir ihr folgen?"
„Das könnte gefährlich werden", meinte ich. „Sie will uns in eine Falle locken."
„Trotzdem", flüsterte Coco. „Ich bin dafür, ihr zu folgen."
Ich traf meine Entscheidung nach wenigen Sekunden. Hekates Gestalt hatte sich weiter entfernt. Sie war halb durchsichtig geworden.
„Trevor, Sie bleiben im Haus! Gehen Sie alle paar Minuten in den Garten! Abi, du kommst mit!" Wir folgten der magischen Gestalt. Sie lief auf einen kahlen Hügel in Richtung Elmsteads Woods zu. Hinter der Jugendstilvilla befand sich ein ausgedehnter Spielplatz, an den sich ein beliebtes Ausflugsgebiet anschloß.
„Was hat sie vor?" fragte ich mehr zu mir selbst.
Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Im Boden klaffte ein Loch. Es war, als hätte sie sich in die Erde zurückgezogen.
Abi leuchtete mit der Taschenlampe den Boden ab. Eine dünne Wurzel war zu sehen, dann wieder Hekates Gestalt.
Ich runzelte die Stirn. War es möglich, daß wir nicht eine Erscheinung vor uns hatten, sondern daß es tatsächlich Hekate war? Ich wollte mich überzeugen. Rasch lief ich auf Hekate zu, die langsam vor mir zurückwich. Als ich mich ihr bis auf zehn Meter genähert hatte, öffnete ich das Ventil des Schlauches, und eine Flamme raste auf Hekate zu. Die Gestalt löste sich augenblicklich auf und tauchte zwanzig Meter entfernt wieder auf. Das Gesicht des Alraunengeschöpfes war vor Schmerz verzerrt. Jetzt kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus.
Dreimal war sie noch zu sehen, dann verschwand sie endgültig. Doch überall entdeckten wir die tiefen Löcher, immer in etwa zwanzig Meter Abstand. Wir folgten ganz einfach diesen Löchern. Die Spuren führten uns durch Elmstead Woods zur Walden Road.
Die Löcher befanden sich sogar im Asphalt der Straße. Die Walden Road war menschenleer. Kein Auto kam uns entgegen. Mit jedem Schritt, den wir zurücklegten, wurde ich mißtrauischer. Hekate wollte uns offensichtlich wo hinlocken.
Die Fährte endete vor einem verrosteten Gartentor. Neugierig blickte ich in den Garten. Verfaulte Bäume, Laubhaufen und ein halb verfallenes Haus waren zu sehen.
„Gehen wir in den Garten?" fragte ich.
„Na klar", meinte Abi und riß das Gartentor auf.
„Nicht so hastig!" sagte ich. „Wir halten etwa zehn Schritte Abstand, verstanden?"
„Verstanden", sagte Abi und wandte sich nach links, während ich geradeaus ging und Coco nach rechts schritt. Wir knipsten die Taschenlampen an, kamen aber nur langsam vorwärts. Immer wieder versperrten uns morsche, umgefallene Bäume den Weg.
Irgendwo klirrte eine Fensterscheibe. Ansonsten war es unnatürlich ruhig. Kein Windhauch war zu spüren.
Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich umklammerte das Ventil des Schlauches fester. Dann erfolgte der Angriff.
Ein umgefallener Baumstamm ragte plötzlich in die Luft, so als würden ihn unsichtbare Hände hochreißen. Der Stamm schwebte auf mich zu. Mit einem Sprung brachte ich mich in Sicherheit, öffnete das Ventil und ließ den Stamm in Flammen aufgehen.
Doch das war nur der Beginn. Aus mit Zweigen bedeckten Löchern sprangen schaurige Wesen, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Es waren wandelnde Pflanzen, schaurige Untote. Aus den leeren Augenhöhlen wuchsen Blüten; fingerdicke, tentakelartige Wurzeln sprossen aus den Leibern, den Armen und Beinen. Gespenstisch war, daß diese unheimlichen Geschöpfe keine Laute von sich gaben. Ich verbrannte einige, doch sie schrien nicht; und immer mehr strömten aus den Löchern. Ich war sicher, daß die Löcher in das Haus führten.
Hekate hatte uns hierher gelockt, doch die von ihr geschaffenen Pflanzenwesen konnten uns nicht ernsthaft gefährden. Sie mußte einen anderen Plan verfolgen.
Es dauerte kaum zwei Minuten, und all die unheimlichen Monster waren verkohlt.
Gemächlich gingen wir auf das verfallene Haus zu, stiegen zur Terrasse hoch und traten ins Haus ein.
Der faulige, süßliche Geruch war mir vom Himalaja her bekannt.
Eine klagende Stimme war zu hören, die rasch lauter wurde.
„Bleib, wo du bist, Dorian!"
Mißtrauisch
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