096 - Kreuzfahrt des Grauens
verschwunden. In der vergangenen Nacht waren nach Einbruch der Dunkelheit bewaffnete Matrosen in Zweiergruppen durchs Schiff patrouilliert, und für die nächsten Tage sollten die Wachtposten beibehalten werden.
Dunkle Ecken und Gänge oder verlassene Räumlichkeiten wurden von den Passagieren gemieden. Der Ton an Bord war nicht mehr der gleiche. Wer konnte seinem Mitpassagier unbefangen gegenübertreten, wenn dieser vielleicht ein Mörder war?
Hinzu kam noch, daß ein schwerer Sturm aufzog. Das Barometer fiel und fiel. Die Luft war bleiern und schwül, kein Lüftchen kräuselte das Wasser.
Walter Martin, Sue Diaz, Gichin Yanakawa und Harriet Stone saßen im Barraum. In der letzten Nacht hatte Sue auf Martins Beistand verzichtet und allein in ihrer Kabine geschlafen. Sie hatte die Tür fest verriegelt und ein Messer für den Notfall bereitgehalten. Zudem stand sie übers Bordtelefon mit dem Dienstraum der Stewards in Verbindung und konnte auch zum Bereitschaftsraum durchwählen.
„Onkel Eduardo ist lange verhört worden“, sagte Sue. „Dieser Inspektor wollte alles über den Mordanschlag und die angeblichen politischen Hintergründe wissen. Eduardo war so wütend wie ich ihn nie zuvor gesehen habe, als er vom Verhör zurückkam. Der Inspektor muß ihm hart zugesetzt haben.“
„Glaubst du, der Mordanschlag auf deinen Onkel und der Mord an den beiden Matrosen und dem Steward haben etwas miteinander zu tun?“ fragte Harriet.
„Ich weiß es nicht. Ein merkwürdiges Zusammentreffen ist es schon.“
„Irgend etwas geht an Bord vor“, sagte Martin. Er starrte in sein Whiskyglas. „Irgend etwas – aber nichts Gutes. Dieser Vogel mit dem Totenkopf, der Unheimliche mit dem Mumiengesicht, und jetzt der dreifache Mord. Das Geschehen steigert sich mehr und mehr einem schaurigen Finale entgegen. Was wir bisher erlebt haben, war nur ein Auftakt.“
„Ich sehe bis jetzt keinen Sinn in dem Ganzen“, sagte Yanakawa. „Aber wenn du recht hast, Martin, werden wir bald dahinterkommen. Diaz wollte unbedingt, daß das Schiff eine andere Route nähme, erzähltest du vorgestern. Die Route, auf der wir uns jetzt befinden?“
„Ja, so war es. Der Taifun, dem wir ausweichen mußten, kam Diaz wie gerufen. Das merkwürdige Auftauchen des schwarzen Albatros’… Ich werde das Gefühl nicht los, daß Diaz an der Kursänderung nicht unbeteiligt ist.“
„Das geht wohl doch etwas zu weit“, meinte Yanakawa. „Ich traue Diaz viel zu, aber einen Taifun wird auch er nicht aus dem Ärmel zaubern können. In dem Fall siehst du Gespenster.“
„Wir haben alle Gespenster gesehen, vergiß das nicht. Stell dir einmal vor, die drei, die im Laderaum ermordet wurden, stießen dort auf die Schreckensgestalt mit dem Mumiengesicht und den Klauenhänden. Dein Handkantenschlag konnte das Ungeheuer nicht fällen, Yanakawa. Und es trug einen Degen am Gürtel. Ich kann mir schon vorstellen, daß es drei Männer umzubringen vermag.“
Yanakawa dachte daran, wie er in die glühenden Augen in dem gräßlichen Gesicht gesehen hatte, und es überlief ihn kalt.
„Willst du mit Inspektor Dolezal über deine Vermutungen sprechen, Martin?“
Der schwarzhaarige Mann zuckte die breiten Schultern.
„Wozu? Dolezal hat genügend Versionen über die Geschehnisse an Bord gehört. Er wird selber zwei und zwei zusammenzählen können.“
„Und was ergibt zwei und zwei in diesem Fall?“ wollte Harriet wissen.
„Vier, wie immer“, antwortete Martin. „Ich weiß nur zu wenig über die Hintergründe und die einzelnen Faktoren, die bei den Geschehnissen eine Rolle spielen, um sagen zu können, was dabei herauskommt.“
„Eine Menge Unheil“, sagte Sue leise.
„Ihr zwei paßt zusammen“, rief Harriet aus. „Martin orakelt wie weiland Kassandra, und Sue sieht so schwarz wie ein Neger im Kohlenkeller. Ich kann auch einen Todesfall mit Bestimmtheit voraussagen.“
„Welchen?“
„Meinen eigenen. Wenn wir jetzt nicht endlich zum Abendessen gehen, sterbe ich vor Hunger.“
Das Lachen klang gezwungen, aber Harriets muntere Art verscheuchte die trübe Stimmung doch etwas. Die beiden Männer machten noch einen Rundgang an der frischen Luft, während Sue und Harriet ihre Kabinen aufsuchten, um sich umzuziehen und zu verschönern.
Am mittleren Swimmingpool traf Martin den weißhaarigen Chinesen, mit dem er bereits zwei Tage zuvor ins Gespräch gekommen war. Der Chinese verbeugte sich lächelnd.
„Kein schöner Abend heute“, sagte er.
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