0976 - Die Leichen der schönen Charlotte
klopfte ihm auf die Schulter. »Sie haben mir schon sehr geholfen. Und diese Doreen wohnt zwei Etagen über dieser?«
»Ja. Apartment einhundertvier.«
»Noch mal, vielen Dank.«
Ich wußte jetzt, wo ich hinzugehen hatte, als ich in den Lift stieg. Der Hausmeister blieb zurück. Er sah aus wie ein Mann, der der Realität entglitten war und nur in seinen Träumen lebte…
***
Charlotte stand am Rand »ihres« Brunnens und hatte die Hände auf das Gestein gelegt. Sie atmete tief durch und freute sich über die kühle Nachtluft. Noch immer glaubte sie, den letzten Schrei des Mannes in den Ohren zu haben, aber das lag mehr als eine halbe Stunde zurück. In dieser Zeit war sie sehr aktiv gewesen. Sie hatte den Wagen des Mannes, in den nahen See gefahren und mit großem Vergnügen zugeschaut, wie er versunken war.
Dann war sie wieder an ihren Lieblingsplatz zurückgekehrt und starrte in die dunkle Tiefe des Schachts.
Ohne Licht war dort wirklich nichts zu sehen. Charlotte lauschte, denn es war schon vorgekommen, daß Opfer überlebt hatten. Dann waren die verzweifelten Schreie und Stöhnlaute an den Wänden des Brunnens in die Höhe gedrungen, und Charlotte hatte dagestanden und zugehört.
In diesem Fall war alles still.
Trotzdem wollte sie sich auf ihre Art und Weise überzeugen. Die lichtintensive Taschenlampe lag neben ihr auf dem Boden. Charlotte nahm sie hoch und leuchtete in den Schacht hinein. Dabei veränderte sie noch etwas an der Optik. Das Licht wurde nicht mehr so stark fokussiert. Es breitete sich jetzt fächerförmig aus und streifte über die Innenwände des Brunnens hinweg.
Mächtige Steinblöcke bildeten den Schacht, der tief in die Erde getrieben worden war. Farne und Moose hatten sich in den Ritzen des feuchten Gesteins angesiedelt.
Das Blut hatten sie nicht überdecken können.
Charlotte lächelte, als sie es sah. Es klebte an der Brunnenwand wie hingeklatscht. Sie sah jetzt auch das frische Blut des letzten Opfers, das eine andere Farbe hatte. Sie war heller als das ältere und noch nicht eingetrocknet, denn an den unteren Rändern der Lage lösten sich noch einige Tropfen, die auf ihrem Weg in die Tiefe eine dünne, rote Spur auf dem Gestein hinterließen.
Dem folgte Charlotte mit dem Licht der Lampe, das sich dort fing, wo die Spitzen der mörderischen Pfähle in die Höhe ragten, denen die Opfer nicht entrinnen konnten.
Auch Dick war es nicht gelungen. Mindesten drei Pfähle mußten ihn erwischt haben, denn so dicht standen sie beisammen. Der Körper allerdings hing dort nicht mehr fest. Er war durch die Lücken in die Tiefe gerutscht und lag jetzt auf dem feuchten Schlammboden.
Charlotte war zufrieden.
Vorerst zumindest.
Trotzdem blieb sie mit dem Oberkörper über den Rand gebeugt stehen und starrte in die Tiefe. Sie mußte einfach etwas loswerden, auch wenn sie keiner mehr hören konnte. Sie schrie die Worte in die Tiefe hinab, wobei sich ihre Stimme beinahe überschlug. »Du hast mich nicht reinlegen können, Hundesohn, du nicht. Wenn du gedacht hast, daß du besser wärst als ich, so hast du dich getäuscht. Ich habe gespürt, daß du kein normaler Gast bist, und ich habe dich mit noch größerer Freude in den Schacht hineinstürzen lassen.« Sie stoppte, dann schickte sie noch ein schrilles Kichern als Nachricht in die Tiefe, bevor sie ihren Oberkörper wieder anhob und sich zur Seite drehte.
Sie fühlte sich gut. Die Lampe schaltete sie aus und ging auf ihr kleines Haus zu.
Es war schon seltsam, daß man sich tatsächlich in einer modernen und von der Elektronik oft überwachten Welt so gut verstecken konnte. Niemand hatte ihr Versteck bisher gefunden. Sie hatte all ihre Spuren löschen können, und es war ihr auch gelungen, sehr raffiniert vorzugehen. Dieses Kompliment mußte sie sich selbst machen. Die zwei Wohnungen hatten schon ihren Vorteil Immer dann, wenn der Brunnen sie lockte, lockte sie auch einen Kunden her. Und sie kamen alle, denn sie liebten die Einsamkeit, wo sie niemand sah, der sie an ihr schlechtes Gewissen erinnerte, denn zumeist waren die Kunden ja verheiratet. Sie mochten die Einsamkeit und hofften besonders auf das Erfüllen der Versprechen, die ihnen Charlotte schon zuvor gemacht hatte.
Sie waren gekommen.
Alle.
Und sie waren entsprechend bedient worden.
Dieser Gedanke machte sie fröhlich. Um so beschwingter schritt sie dem dunklen Haus entgegen, das eigentlich mehr einer Hütte glich und von der natürlichen Umgebung geschützt wurde. Es stand
Weitere Kostenlose Bücher