098 - Der Kerkermeister
er.
Sie schritten weiter, und diesmal konnte ich mühelos folgen. Nach zehn Minuten hatten wir die Steinebene hinter uns gelassen und stiegen in das Tal, das ganz normal aussah. Blühende Obstbäume, Gras und einige Blumen. Doch auch hier war kein tierisches Leben. Kein Vogel, kein Schmetterling, ja nicht einmal eine Fliege. Ich bückte mich und suchte den Boden ab. Kopfschüttelnd ging ich weiter.
Von den blühenden Bäumen ging ein unangenehmer Geruch aus. Die Blüten stanken erbärmlich.
Die Samurais beratschlagten. Dann gingen zwei Männer nach links, und Akiko und der vierte Krieger nach rechts. Ich schloß mich Akiko an. Ich schien für die Japaner nicht vorhanden zu sein. Wütend preßte ich die Lippen zusammen.
Wir kamen an einem verfallenen Haus vorbei. Akiko trat ein, kam aber schon nach wenigen Sekunden wieder heraus und setzte seinen Weg fort.
Neugierig wie ich war, wollte ich auch in das Innere des Hauses blicken. Also trat ich ein. Das Haus mußte schon vor langer Zeit verlassen worden sein. Überall waren Spinnweben und Staub zu sehen. Die Spinnweben überraschten mich. Es mußte auf dieser verdammten Insel doch tierisches Leben geben.
Als ich ins Freie trat, waren Akiko und sein Begleiter verschwunden.
Ich lief zwischen einigen Obstbäumen hindurch und blickte mich nach allen Seiten um. Schließlich blieb ich verdrossen stehen.
„Akiko!" schrie ich. „Akiko!"
Doch der Samurai meldete sich nicht. Ich beschloß, in der Nähe des verfallenen Hauses zu bleiben. Sicherlich würde Akiko auf dem Rückweg vorbeikommen.
Die unnatürliche Stille zerrte an meinen Nerven. Kein Windhauch bewegte die Bäume. Der Himmel war blaßblau, und die Sonne stand hoch. Trotz der Hitze war mir kalt.
Ich wirbelte herum, als ich hinter mir ein Schluchzen hörte. Automatisch griff ich nach meinen Pistolen und riß sie heraus. Nichts war zu sehen. Stirnrunzelnd ging ich auf das Haus zu. Da war es wieder! Diesmal noch deutlicher.
Mit den Pistolen im Anschlag umrundete ich das Haus. Das Schluchzen war in ein leises Weinen übergegangen. Hinter dem Haus blieb ich stehen.
Zehn Schritte von mir entfernt hockte ein Mädchen auf dem Boden. Sie saß auf ihren Knien und wandte mir den Rücken zu. Den Oberkörper hatte es weit nach vorn gebeugt. Es trug einen kunstvoll bestickten Kimono. Ihr pechschwarzes Haar war aufgesteckt und wurde von verschiedenen Buchsbaumkämmen, die kushi hießen, als Glücksbringer dienten und die Tugend der Trägerin schützten, gehalten. Der Körper des Mädchens wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Geräuschlos huschte ich näher. Zwei Schritte hinter dem Mädchen blieb ich stehen und räusperte mich laut. Doch es schien mich nicht gehört zu haben. Ich hustete. Wieder keine Reaktion.
Das Mädchen heulte gequält auf. Ihr Weinen rührte mich, doch es schläferte mein Mißtrauen nicht ein.
„O-jochu", sagte ich laut. Das war eines der wenigen japanischen Worte, die ich mir gemerkt hatte. Es war eine höfliche Anredeform, die man unbekannten Damen gegenüber anwandte und etwa „ehrenwertes Fräulein" bedeutete.
Das Heulen verstummte.
„Sprecht Ihr portugiesisch?" fragte ich.
„Ja, ein wenig", flüsterte das Mädchen. Ihre Stimme war wie das Zwitschern eines Vogels. „Ich bin O-Yuki."
„O-Yuki?" fragte ich verblüfft. Das war doch der Name des Mädchens, das Franca Marzi befreit hatte und mit dem er später von Kokuo gefangengenommen worden war.
Bevor ich mit dem Mädchen weitersprechen konnte, hörte ich Schritte. Ich wandte den Kopf. Akiko und sein Gefährte liefen auf mich zu.
„Sie ist eine Mujina!" schrie mir Akiko zu.
Doch das half mir nur wenig. Ich wußte nicht, was dieser Ausdruck bedeutete.
Akiko packte mich und riß mich zur Seite, während sein Gefährte auf das Mädchen zusprang. Sie stand auf, und der Samurai zog sein Schwert. Das Mädchen blickte ihn an. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Der Samurai verdeckte es. Der Krieger stieß einen schrillen Schrei aus, taumelte und brach in die Knie. Das Mädchen wandte sich ab und lief davon. Akiko folgte ihr. Auch er zog sein Schwert.
Verständnislos sah ich den beiden nach. Dann fiel mein Blick auf den Samurai, der sich auf dem Boden wälzte und dabei durchdringend schrie. Das paßte gar nicht zu dem Bild, das ich mir von diesen Kriegern gemacht hatte. Es war einfach unvorstellbar, daß einer seine Schmerzen zeigte.
Der Samurai griff nach seinem Schwert, stemmte sich hoch und wankte einige Schritte vorwärts. Er
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