0987 - Das Seelenloch
halbrunde Steintreppe. Ich drehte mich noch einmal um, sah den Fluß, die Brücke, einen Brunnen, die Bushaltestelle, wo sich Wanderer versammelt hatten. Eine friedliche Welt, die sich hier auftat. So richtig was für einen Erholungssuchenden. Fernab vom Streß der Städte.
Ich drehte mich wieder um, und nach einem weiteren Schritt öffnete sich die Tür vor mir automatisch, so daß ich in diese heimelige, gemütliche und gar nicht kitschige Welt hineintrat. Oft erlebt man Hotelbauten, in denen die Gemütlichkeit so unnatürlich wirkt wie das Lachen eines Monsters.
Hier nicht. Auf den ersten Blick war bereits zu erkennen, daß alles organisch gewachsen war, und ich ging davon aus, daß auch die Renovierungen sehr behutsam vorgenommen worden waren.
An der Rezeption blieb ich stehen. Sie war nicht groß, nicht protzig, sondern familiär - wie das Lächeln der jungen Frau, die mich begrüßte.
Ich hatte meinen Namen kaum genannt, als sie mich plötzlich anstrahlte. »Ja, Mr. Sinclair, Sie werden erwartet.«
»Danke, aber sprechen Sie ruhig deutsch.«
»Gut.«
»Wo muß ich hin?«
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.«
Sie ging vor, ich folgte ihr, und sie führte mich geradeaus in eine gemütliche Bar. Im Hintergrund standen Tische und Stühle, an denen auch gegessen werden konnte.
Dort saß Jane Collins. Sie war nicht allein. Eine junge Frau hatte den Platz neben ihr eingenommen und redete leise auf sie ein. Beide hatten mich noch nicht gesehen, doch als ich hinüberlachte, da ruckte Janes Kopf in die Höhe.
»John!« rief sie, sprang auf und rannte auf mich zu.
Ich mußte meine Tasche schnell abstellen, um sie mit beiden Armen auffangen zu können. Dann hielt ich Jane in den Armen und spürte ihr Zittern. Und das bei ihr, einer Frau, die sich nicht so schnell vor etwas fürchtete. Da mußte es schon verdammt hart gekommen sein.
Sie küßte mich auf die Wangen und auf den Mund, und sie sah verdammt erleichtert aus.
Als sie mich schließlich losgelassen und ich mein Gesicht von ihrem Lippenstift befreit hatte, wurde mir bewußt, wie durstig ich war. »Jetzt brauche ich ein Bier.«
»Und auch was zu essen?«
»Nein, das habe ich an Bord getan. Aber ein Bier wäre jetzt gut.«
Ich bekam es. Sogar ein großes. Es wurde serviert, als ich den beiden Frauen gegenübersaß und auch den Namen der zweiten Person erfuhr. Sie hieß Karin, war hier im Hotel angestellt und bezeichnete sich selbst als Hexe oder Hexerl.
Der erste Schluck, den ich lange hinauszögerte, war eine Wohltat. Da konnte man schon glänzende Augen bekommen, und es freute sich auch meine trockene Kehle. Ich wischte mir noch Schaum von den Lippen, stellte das um ein Drittel geleerte Glas wieder ab und nickte den beiden Frauen zu. »So, und jetzt erzählt mal.«
Sie taten es. Ich hörte zu. Was ich da erzählt bekam, konnte mir einfach nicht gefallen, aber ich nahm den beiden jedes Wort ab. Warum hätten sie mich belügen sollen?
Nachdem sie ihren Bericht beendet hatten, liefen nur mehr Schaumstreifen am Innenrand des Glases entlang.
»Begreifst du es?« fragte mich Jane.
»So richtig noch nicht. Fest steht für mich, daß Sie, Karin, sich als Hexe fühlen.«
Hinter den Brillengläsern erschienen die Augen extrem groß. »Ja, das bin ich auch.«
Ich schaute sie mir an. Sie war ein nettes Mädchen. Niemand hätte in ihr eine Hexe vermutet, schon gar nicht im landläufigen Sinne, wie sie als Schreckgespenst für Kinder diente, denn da wurden die Hexen immer als häßliche, alte und bucklige Frauen beschrieben.
»Und dieser verstorbene oder vielleicht jetzt doch nicht tote Fritz Huber ist schuld, daß Sie zu einer Hexe wurden?«
Bevor Karin antworten konnte, mischte sich Jane Collins ein. »So darfst du das nicht sehen, John. Ich denke mir, daß ihre etwas ungewöhnlichen Kräfte ähnlich gelagert sind wie bei mir.«
»Also sehr knapp gehalten.«
»Ja.«
Karin lachte etwas unsicher. »Ich reite nicht auf einem Besen durch die Luft. Es ist anders. Ich spüre nur manchmal Dinge, die anderen verborgen bleiben, und das ist schon ungewöhnlich oder nicht normal. Deshalb sehe ich mich so.«
»Wovor haben Sie Angst, Karin?«
Sie schüttelte den Kopf, weil sie die Frage nicht begriffen hatte. »Wie meinen Sie das?«
»Fürchten Sie sich davor, in die Kirche zu gehen?«
»Nein.«
»Sehr gut.« Ich lächelte und fragte sofort weiter. »Wie ist es mit Ihrem Lehrmeister gewesen? Ist er in eine Kirche gegangen, oder hat er Orte mit
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