0988 - Das Labyrinth von Eden
sich eine Lichtinsel über Bett und Umgebung.
Der Wecker verriet, dass es nicht einmal Mitternacht war. So kurz nur hatte sie geschlafen - dabei war es ihr wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen.
Carries Blick ging wie selbstverständlich zur Fensterbank, wo sich im neuen Topf noch nichts getan hatte. Und auch an dem anderen suchte Carrie vergeblich nach den Trieben, die bereits gut zu erkennen gewesen waren. Nur -da war nichts mehr.
Sie sind verkümmert, dachte sie, und merkte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Ihr wurde bewusst, wie eng sie sich diesen ganz besonderen Pflanzen verbunden fühlte. Wenn es ihnen schlecht ging, ging es auch ihr schlecht. Und wenn sie abgestorben waren…
Es schnürte ihr fast die Kehle zu.
Dann erst bemerkte sie, dass mit dem Topf selbst etwas nicht stimmte. Das Terrakotta war voller Sprünge.
Langsam schlug Carrie die Bettdecke zurück und schwang ihre Beine über den Rand. Wenig später trat sie an die Fensterbank und sah durch die Scheibe hinaus in die sternklare Nacht. Der Mond schien so hell, dass das Band der Loire in der Ferne zu sehen war, wie es sich durch das nächtliche Tal schlängelte. Die Positionslichter und vagen Umrisse eines Schiffes bewegten sich darauf.
Aber dafür hatte Carrie nur einen winzigen Moment lang Augen.
Im nächsten schon streifte sie ein kühler Luftzug, obwohl das Fenster geschlossen war.
Geschlossen - aber nicht dicht.
Im ersten Moment realisierte sie die zerschlagene Scheibe im unteren Fensterdrittel gar nicht - und noch weniger die daumendicken Strünke, die sich von der Rückseite des Topfes durch das Loch hindurchschlängelten. Eine große Tonscherbe lag auf der Fensterbank, als wäre sie aus dem Gefäss herausgesprengt worden. Tatsächlich zeugten dort, wo die Pflanzen gesprossen waren, nur noch kümmerliche Reste, die am Boden klebten, von dem, was Zamorras Behauptung zufolge einmal wahrhaftige Regenbogenblumen hätten werden sollen.
Daraus würde nichts mehr werden. Traurig starrte Carrie auf die Überreste des Topfs hinab. Sie hatte sich auf die Pflanzen gefreut, stattdessen hatten die Wurzeln offenbar kräftige Ausleger gebildet, denen es gelungen war, erst die Topfwand und dann die Fensterscheibe zu durchbrechen.
Was für ein Aberwitz!
Carrie fröstelte plötzlich, ohne dass sie hätte sagen können, ob der Kälte wegen, die hereinwehte - oder weil ihr der veränderte Wachstumsprozess unheimlich geworden war.
Dass sie in einem verschwitzten Pyjama in der Zugluft stand, mochte das seine zu ihrem Schauder beitragen.
Ein paar Sekunden lang starrte sie noch auf das absurde Bild, das sich ihr bot, dann rannte sie aus dem Zimmer, den Flur hinunter und riss die Tür auf, hinter der Zamorra und Nicole schliefen.
Beziehungsweise die längste Zeit geschlafen hatten.
***
Zamorra trat ans Fenster, während Nicole mit Carrie an der Hand ein paar Schritte Abstand hielt.
»Du hast recht«, sagte er an die Adresse des Regenbogenmädchens, »alles abgestorben. Die Pflänzchen waren offenbar doch nicht lebensfähig. Allerdings…«
»Allerdings?«, fragte Nicole angespannt.
»Allerdings sehe ich auch nirgends Wurzelwerk oder dergleichen, das sich durch die Verglasung gebohrt hat.« Er winkte Carrie und Nicole zu sich. »Seht selbst. Die Scheibe ist zerbrochen, genau wie der Topf, aber…«
Carrie schob sich neben ihn.
»Vorhin war es noch da. Es sah aus wie Lianen, die seitlich aus dem Topf traten und draußen verschwanden! Ich schwöre, es war so!«
Zamorra fing einen fragenden Blick von Nicole auf und zuckte mit den Achseln. Dann räumte er die Reste des einen Topfes und das noch unversehrte andere Gefäss von der Fensterbank und öffnete das beschädigte Fenster. Da er keine Lampe zur Hand hatte, aktivierte er das Amulett und lehnte sich weit aus dem Fenster. Silberlicht strich über das äußere Mauerwerk.
Zunächst entdeckte er nichts. Doch dann stieß er einen verblüfften Pfiff aus.
»Was ist?«, drängte Nicole.
»Carrie hat nicht geträumt. Da draußen ist etwas, auf das ihre Beschreibung passt. Man könnte es mit einem Efeustrang ohne Blätter verwechseln. Das Amulett schlägt auch jetzt nicht an, aber ich habe keinen Zweifel, dass es sich um das handelt, was Carrie uns beschrieben hat. Demnach muss es sich eigenständig aus dem Topf herausgezogen und durch das Loch in der Scheibe nach draußen verabschiedet haben. Ziemlich viel Eigeninitiative für eine Pflanze, wenn ihr mich fragt.«
»Das gefällt mir nicht.
Weitere Kostenlose Bücher