0993 - Das Rätsel der Schattenfrau
Nebelschwaden Figuren ausmachen können. Amorphe Körper, die sich einfach nur treiben ließen und dabei den Gesetzen der Natur gehorchten.
Aber sie war Realistin und nahm den Nebel, wie er gerade kam, obwohl ihr Mann sie mit seinen Vorahnungen schon leicht beunruhigt hatte.
»Denkst du über das Wetter nach?«
Sie nickte.
»Spaß macht es nicht, jetzt loszufahren, aber ich habe mich angemeldet und werde losziehen.«
»Dann bleibe ich hier.«
»Soll ich dir was mitbringen?«
»Das wäre gut, und zwar…« In diesem Augenblick brach Mary Sinclair ihren Satz ab. Dafür zuckte sie zusammen, und aus dem offenen Mund drang ein Schrei.
Ihr Mann wußte im ersten Moment nicht, was da passiert war. Er starrte Mary an, die verdreht auf dem Stuhl saß und in Richtung Fenster schaute.
Dort mußte sie etwas gesehen haben.
Auch Horace starrte hin.
Er sah die unheimliche Gestalt!
***
Der ehemalige Anwalt schrie nicht, denn schließlich war er durch die Reaktion seiner Frau vorgewarnt worden.
Doch was da draußen durch den Nebel trieb, das sah tatsächlich aus wie eine Spukerscheinung mit den feinstofflichen Körperumrissen einer Frau.
Beide Sinclairs bewegten sich nicht, sie hatten nur Blicke für die Erscheinung.
Mary fand als erste die Sprache wieder. »Das ist doch schrecklich«, flüsterte sie. »Das - das kann doch nicht wahr sein! Das glaube ich einfach nicht.«
»Wieso?« Horace hatte das Wort gehaucht, ohne es selbst richtig gewollt oder gespürt zu haben.
»Ein Gespenst.«
Der Mann schwieg. Er konnte einfach nichts mehr sagen. Etwas Unsichtbares drückte gegen seine Lippen und hätte ihm jedes Wort wieder zurück in den Mund geschoben. Er war geschockt, und er war fertig. Fragte sich allerdings, ob es stimmte, was sie da zu sehen bekamen. Es war wohl kein Irrtum, keine Halluzination. Zudem noch durch den verdammten Nebel hervorgerufen, der sich träge im Wind bewegte, so daß es durchaus möglich war, daß er diese Gestalt erzeugt hatte.
Oder…?
Nein, das glaubte er nicht, und als er den Kopf seiner Frau zudrehte, da wußte er plötzlich, daß Mary zumindest ähnlich dachte, das las er von ihrem Gesichtsausdruck ab.
Die Gestalt blieb vor der Scheibe. Sie stand da wie eine Säule. Nicht mal der Wind bewegte sie. Er konnte sich zwar in die Nebelschleier hineindrücken und sie zu immer neuen Figuren formen, aber nicht bei dieser Person.
Also war sie echt!
Die beiden Sinclairs waren dabei, sich von dem ersten Schrecken zu erholen. Allmählich bekamen ihre Gesichter wieder Farbe, und die Blässe verschwand.
Tief atmete Mary ein. Aber sie sagte noch nichts und hob den rechten Arm an. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutete sie gegen die Scheibe. Dann suchte sie nach Worten und preßte mühsam einen Satz hervor. »Sie ist echt, Horace…«
Sinclair nickte nur.
»Schau, wie sie aussieht. Du kannst ihr Gesicht sehen, obwohl sie ein Geist ist. Aber ich glaube, daß sie uns mit unendlich traurigen Augen anschaut. Sie sieht aus, als wüßte sie genau über uns Bescheid, als würde sie um uns trauern. Ich verstehe das nicht, Horace, aber du hast mir ja gesagt, daß du dieses Gefühl hattest…«
Es stimmte, was Mary gesagt hatte. Der Meinung war auch ihr Mann.
Diese Gestalt war feinstofflich. Sie konnte kein Gesicht haben, und doch war es vorhanden. Wie mit einem Pinsel in den Nebel gezeichnet, und tatsächlich hatte ihr Gesicht einen sehr traurigen und wissenden Ausdruck, als wäre ihr klar, wie es um die beiden bestellt war. Aber das war nicht alles. Die Geisterfrau hinter der Scheibe schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf, bevor sie sich auf ihre Art und Weise meldete. So etwas wie ein zwitscherndes Flüstern drang durch die Küche. Ein schrilles Geräusch, zwar eine Stimme, aber kaum zu verstehen und in einem Bereich liegend, der die beiden leeren Gläser auf dem Tisch leise klirren ließ. In dieses Zwitschern hinein klangen die ersten Worte, die von beiden kaum verstanden wurden.
Sie horchten nur.
Dann wiederholten sich die Worte.
Und wurden verstanden.
»Sterben, ihr werdet beide sterben. Der Fluch der Sinclairs - er ist noch nicht beendet…«
Im nächsten Augenblick war das Geräusch weg. Verschluckt, einfach nicht mehr da.
Wie auch die Geisterfrau.
Mary und Horace Sinclair starrten das Fenster an. Sie sahen hinter der Scheibe den leichten Dunst, der normal am Glas vorbeitrieb, aber sie entdeckten die unheimliche Besucherin nicht mehr.
Die hatte sich aufgelöst…
***
Beide waren
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