1 - Schatten im Wasser
die Ohren zu. Eine Staubwolke stieg aus der Matratze auf, kitzelte sie in der Nase, und sie musste niesen.
Als Johann erneut klopfte, hob sie den Kopf. »Du musst heute woanders schlafen. Ich wil allein sein«, rief sie und war stolz, dass ihre Stimme nichts von ihrem inneren Aufruhr verriet. Sie biss sich auf ihre Faust, um nicht laut zu schreien, wollte sich nicht überwältigen lassen von der Vorstellung, für den Rest ihres Lebens in dieser armseligen Hütte gefangen zu sein.
»Ich wil nicht, ich wil nicht, ich wil nicht!«, knirschte sie und schlug mit geballten Fäusten auf die Matratze ein. Der Staub wirbelte, ihr Ehering schnitt ihr ins Fleisch, und in Gedanken hörte sie die Ketten klirren, mit denen sie sich freiwil ig gebunden hatte. Die Worte, mit denen sie das Versprechen besiegelt hatte, klangen noch immer in ihren Ohren. Ihn lieben und ehren, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod euch scheidet, und irgendwo da draußen war Konstantin. Verzweiflung verschloss ihre Kehle, und schon fühlte sie das Brennen von Tränen.
»Wenn Jammern denn hilft, werde ich am lautesten jammern, reiß dich endlich zusammen«, spottete da ihre eigene Stimme aus der Vergangenheit. Das hatte sie Wilma entgegengeschleudert. Beschämt kaute sie auf ihrem Fingernagel und setzte sich auf, starrte abwesend vor sich auf den Holzfußboden. Zu ihren Füßen entstieg eine kleine Armee Ameisen in einer langen Reihe einem Loch zwischen den Brettern. Sie marschierten durchs Zimmer, die Wand hoch und stürzten sich auf einen toten Gecko, der hundertmal so groß war wie sie selbst. Catherine stieg über die Ameisen hinweg, ging zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und starrte in die rasch aufziehende Dunkelheit. Wenn sie nur ihr eigenes Ziel klar sehen könnte. Das Buch mit Reisebe-338
Schreibungen und ihren Zeichnungen? Sie stellte es sich vor, gebunden, mit ihrem Namen und vielleicht dem Aquarell, das sie von den Kapfinken angefertigt hatte, auf dem Einband. Aber war das genug für ein ganzes Leben? Sie stand ganz stil und lauschte in sich hinein. Was also wollte sie?
Ich bin doch erst achtzehn, dachte sie, woher soll ich das wissen?
Eigentlich wusste sie nur, was sie nicht wollte. Ihr Blick wanderte zum Horizont.
»Was wünschst du dir am meisten?«, hatte ihr Vater gefragt.
Und sie hatte ihm geantwortet, denn sie wusste es genau, damals, als sie ein sehr kleines Mädchen gewesen war und ihr Leben noch vor ihr lag, weit und strahlend hell und geheimnisvoll wie das Meer, auf dem die Sterne tanzten. Sie hatte es vor sich gesehen. Es leuchtete, es war etwas Funkelndes, etwas, das bunte Blitze schoss, etwas unbeschreiblich Kostbares. »Glück«, hatte sie gejubelt. »Al es Glück dieser Welt. Ich werde ausziehen und mein Glück suchen.«
Noch heute hörte sie die Wehmut in der Stimme ihres Vaters, als er antwortete. »Das ist es, was jenseits des Horizonts liegt. Dort wirst du es finden, und wenn du es in den Händen hältst, wird es funkeln und schimmern, und dein Herz wird singen.«
Glück? Würde sie es erkennen, wenn sie es in Händen hielt? War es etwas, das funkelte und ihr Herz zum Singen brachte? Grandpere hatte sein Glück beschrieben. Das Wissen, wohin er gehörte, und er hatte nicht nur den Ort gemeint, sondern auch die Menschen, die ihn liebten. Das Glück ist in der Seele zu Hause, hatte er gesagt.
Wohin gehörte sie? Einen Ort, den sie Heimat nennen konnte, hatte sie nie gehabt. Ihre Heimat war Grandpere gewesen, Papa und die Erinnerung an Mama, und sie alle waren tot. Sie fröstelte, spürte etwas von der knochenkalten Einsamkeit, die sie überfallen hatte, als sie glaubte, dass Johann ertrunken wäre. Doch dann, im selben Augenblick, in dieser Sekunde reinster Seligkeit, als er lebend aus dem Meer stieg, hatte ihr Herz vor Glück gesungen. Versonnen drehte sie ihren Ehering.
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Vor Gott und dem Gesetz gehörte sie jetzt zu Johann Steinach. Er liebte sie und wusste, wohin er gehörte. Nach Inqaba, den Ort der Zuflucht, den er Heimat nannte. Darum beneidete sie ihn glühend. Er betrachtete sich als glücklich und bestätigte so Senecas Definition dieses Zustandes. Nicht der ist glücklich, der anderen so vorkommt, sondern der, der sich selbst dafür hält.
Wenn sie sich glücklich schätzen würde, wäre sie es dann auch? Inqaba gehörte auch ihr, Johanns Traum lag ihr zu Füßen, und sie besaß seine Liebe. Sie brauchte nur zuzugreifen. Sie hatte die Wahl.
Gedankenverloren untersuchte sie die Flecken,
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