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1 - Schatten im Wasser

Titel: 1 - Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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Gehversuchen, und bald wagte sie einen Spaziergang mit ihm. Zwischen den Häusern schritten sie langsam hinunter zu dem geschäftigen Hafen.
    Wilma bestand darauf, sie als Anstandsdame zu begleiten. Missbil igend ihre Lippen zusammenkneifend, hatte sie an allem etwas auszusetzen, bis Catherine, die ihrer quengeligen Stimme überdrüssig war, sie anwies, sich in einiger Entfernung hinter ihnen zu
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    halten. »Du verdirbst mir sonst noch diesen wunderbaren Tag.« Wilma gehorchte aufs Tiefste beleidigt.
    Der eisige Sturm hatte aufgehört, eine gläserne Klarheit lag über dem Kap, und die Luft war frisch und leicht, die Sonne glänzte auf den Häusern, dem jungen Grün der Bäume und den hübschen Hüten flanierender Damen. »Ganz und gar nicht afrikanisch, nicht wahr?«, bemerkte Catherine an Johanns Arm und berichtete ihm von ihren Expeditionen in den Urwald am Flussufer des Kongo. »Es ist unbeschreiblich heiß und feucht dort, wie in einem Waschhaus, in dem den ganzen Tag Wäsche gekocht hat. Ich muss sagen, ich ziehe das gemäßigte subtropische Klima vor.« Nur kurz erwähnte sie, dass ihr Vater gestorben war, sie sagte nicht, wie und woran.
    Noch waren die Einzelheiten zu schmerzlich, zu privat, um sie vor einem fremden Menschen auszubreiten. Den Trauerflor hatte sie aus demselben Grund von ihrem Ärmel entfernt. Johann Steinach fragte nicht nach. Er zeigte zu ihrer Überraschung ein ausgeprägtes Taktgefühl, was ihr aufkeimendes Vertrauen in ihn nur festigte. Langsam schritt sie an seinem Arm über die sonnenbeschienene Weite des großen Paradeplatzes. Ein paar Kinder spielten mit einem Ball, während ihre farbigen Kindermädchen schwatzend zusammenhockten.
    Auf einem Mauerblock unter windzerzausten Seestrandkiefern ruhte sie sich aus. »Aus welchem Teil Bayerns stammen Sie? Und warum sind Sie nach Afrika gegangen?« Sie lächelte zu ihm auf und fand, dass die Lachfältchen um seine braunen Augen wirklich sehr anziehend wirkten.
    Johann erwiderte ihr Lächeln mit hämmerndem Herzen. »Das ist eine sehr lange Geschichte«, begann er in seinem gemütlichen Dialekt, »ich stamme aus der entlegensten Region in Bayern, dem Bayerischen Wald, und bin am Fuß des Rachel geboren, dort, wo der Bayerwald an den Böhmerwald grenzt. Der Hof meiner Eltern liegt auf einer großen Waldlichtung am Ufer eines Mühlenbachs, der ihr Sägewerk betreibt. Der Schnee fällt dort bis in den Mai hinein, und schon Anfang September kommen die ersten Nachtfröste. Schuld daran, dass ich nach Afrika 127
    ging, ist mein Vater. Er hat eine Passion, ungewöhnlich für einen, der tags so hart arbeitet. Er liest, nur so, zu seinem Vergnügen, jeden Abend eine Kerze lang, und vor dem Schlafengehen hat er mir von den fremden Welten erzählt, die er besucht hatte. Da hörte ich vom Ozean, einem Wasser, das so groß war, dass man kein Ende sah. Ich konnte es kaum glauben, denn ich kannte nur den Weiher von Kogelsreuth, dem kleinen Dorf, das eine halbe Stunde Fußmarsch von unserem Hof entfernt liegt, und die Ohe, ein Flüsschen, meist nicht mehr als einen Steinwurf breit, in der ich oft Forellen fing.«
    Catherine hatte die Augen geschlossen. Seine ruhige, dunkle Stimme spülte wie eine warme Flut über sie hinweg. Der bayerische Tonfall war weich und rund. Sie hätte ihm stundenlang zuhören mögen. Als er aufhörte zu reden, erhob sie sich und ging langsam mit ihm hinunter zum Rand des Meeres. »Wann haben Sie Ihr Zuhause verlassen?« Ein kleiner Krebs raschelte über ihren Fuß, und sie wich einer flachen Welle aus.
    Johann bückte sich, klaubte einen Kiesel auf und ließ ihn übers Wasser hüpfen. »Als ich siebzehn war und nichts mehr in der Schule lernen konnte, was ich nicht schon wusste, beschloss ich, mir den Ozean anzusehen. In der freien Zeit, die ich zwischen Schule und dem Bewirtschaften unserer Mühle noch fand, nahm ich jede Arbeit an. Mistgruben ausheben, im Winter die gefällten Bäume mit dem Schlitten vom Berg herunterbringen oder auch Briefe für die schreiben, die dieser Kunst nicht mächtig waren. Ich sparte jeden Heller meines Lohns. Eines Tages, lange vor Morgengrauen, verließ ich heimlich den Hof meiner Eltern und machte mich auf den Weg.«
    Mit gerunzelter Stirn schwieg er einen Augenblick. »Dass ich mich von meinen Eltern nicht verabschiedet habe, kann ich mir bis heute nicht verzeihen. Doch sie hätten mir die Reise nie erlaubt, und ich hatte die feste Absicht, nachdem ich das Meer gesehen hatte, wieder nach Hause

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