1 - Schatten im Wasser
Ihre Haare flogen im Sturm, das Kleid verhedderte sich am Tau. »Johann, wo bist du?«, schrie sie. »Johann, hierher!« Aber die Worte wurden vom Wind zerfetzt.
Der Kapitän gab den lamentierenden Passagieren Anweisungen, sich mittschiffs zu versammeln und ihr Hab und Gut zu sichern, doch gegen das schril e Gekreisch der Elemente konnte er sich nur schwer durchsetzen. Er verschwand im Ruderhaus. Die Männer brüllten Befehle an ihre Frauen, sich und die Kinder festzuhalten, während sie versuchten, die wichtigsten Gepäckstücke zu retten. Die Frauen schrien in Panik ihre Kinder an, die wiederum, nicht wissend, was um sie her passierte, nur hilflos weinten.
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Johann suchte das Schiff nach Catherine ab, rief ihren Namen und drängte sich dabei rücksichtslos durch die Menge. Die Vorstellung, dass sie unbemerkt über Bord gegangen sein könnte, machte ihn fast wahnsinnig. In den haushohen Wellen würde sie keine Überlebenschance haben. An die riesigen Haie, für die diese Küste berüchtigt war, zwang er sich, nicht zu denken.
Er stieg auf eine Kiste, und da endlich sah er sie. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Schlau, wie sie war, hatte sie ein Tau gepackt und sich um den Leib gebunden. Er stieß die Umstehenden grob aus dem Weg und erreichte sie Sekunden vor der Kollision mit den Felsen, drückte sie gegen den Hauptmast, schlang seine Arme um sie und schützte sie mit seinem Körper gegen den Aufprall.
Als der kam, war er erstaunlich gelinde, nicht der brutale, markerschütternde Ruck, den sie erwartet hatten. Trotzdem riss sich tief im Bauch die Ladung los, knallte gegen die Bordwände und schlug alles kurz und klein. Der Segler kämpfte mit der ganzen Kraft und Zähigkeit der Eichbäume, aus denen er gebaut war, gegen den Untergang. Doch am Ende verlor er, und die Geräusche, mit denen er auseinander brach, waren grauenvoll. Catherine sollte sie bis ans Ende ihres Lebens nicht vergessen.
Als wäre das Schiff ein lebendes Wesen und würde langsam in Stücke gerissen, schrie die White Cloud, als sich die zackigen Felsspitzen wie Monsterzähne in ihren Leib fraßen. Immer lauter schrie das Schiff, immer heftiger wurden die Stöße, die seinen Rumpf erschütterten. Ein tiefer Bassgeigenton erfüllte die Luft, der Catherine die Haare zu Berge stehen ließ. Der Mast, der Decksboden, jede Faser ihres Körpers vibrierte, als wären sie Klangköper einer Riesengeige.
»Der Wind versetzt die Taue in Schwingungen«, keuchte Johann. Mit einem Griff wie von Eisenklammern hielt er seine Frau in seinen Armen fest, presste ihr die Luft aus den Lungen, bis rote Feuerbälle hinter ihren Augen explodierten. So wartete sie auf ihr aller Ende. Der Mast über ihr brach und krachte neben ihnen herunter, zerschmetterte den großen Verschlag, in dem die Möbel der Auswanderer gestapelt waren. Das Deck stell-211
te sich fast senkrecht, und Johann grunzte vor Schmerz, als ein Koffer seine Nieren rammte. Es kostete ihn das letzte Quäntchen seiner Kraft, um nicht loszulassen und mit Catherine in die tosenden Fluten zu stürzen.
Ihre Qual dauerte an, und Catherine verlor jegliches Gefühl für die Zeit und für sich selbst. Ihr ganzer Kosmos bestand aus dem Kreis seiner Arme, dem rauen Stoff seiner durchnässten Jacke und dem Pochen seines Herzens. Irgendwann verstummte das Schreien, nur noch das Donnern der brechenden Wellen und das Krachen von berstendem Holz erfüllte die Luft.
Langsam starb das Schiff, Woge aufWoge brach sich über dem Deck, und dann, im ersten Grau des Morgens, sah sie eine gläsern grüne Wasserwand auf das Schiff zurauschen, die ihr so hoch erschien wie ein zweistöckiges Haus. Starr erwartete sie ihren Untergang, füllte ihre Lungen nicht mit Luft, hoffte, dass das Ende so schneller und gnädig sein würde.
Für Minuten bestand ihre Welt nur aus hallendem Donner, weißer Gischt, strudelnden Wasserblasen. Das Deck neigte sich weit zu einer Seite, dann rollte das Schiff zurück, das Wasser lief ab, und der Boden unter ihren Füßen war plötzlich fast waagerecht. Reine Luft strömte in ihre Lungen, sie hob den Kopf und blinzelte ungläubig durch die Wimpern. Die White Cloud hing auf den Felsen, aber die Riesenwelle hatte das Schiff aufgerichtet und fest verkeilt. Das Deck war noch in einem Stück. Überall türmten sich Gepäck und Holztrümmer, Menschen hingen halb ertrunken da, wo sie sich festgebunden hatten, aber keiner war über Bord gegangen.
Johann rührte sich. »Kannst du allein stehen?«, fragte er
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