1 - Wächter der Nacht
zuckte mit den Schultern. »Dass wir noch einmal über diese Fragen sprechen, wenn wir hundert Jahre alt sind? Mir geht es gut. Einfach gut. Weil ich nirgends hinlaufen, mir über nichts den Kopf zerbrechen muss, weil die Wachen die Zungen rausstrecken und sich in den Schatten gelegt haben.«
»Mir geht es auch gut«, stimmte Swetlana zu. »Aber wir sind nur zu viert, nur vier junge oder fast junge. Julja, Tigerjunges, du und ich. Was wird mit uns in hundert Jahren sein? In dreihundert?«
»Das sehen wir dann.«
»Anton, du musst das verstehen.« Sweta berührte sanft meine Hand. »Ich bin sehr stolz darauf, dass ich in die Wache eingetreten bin. Bin glücklich, dass meine Mutter wieder gesund ist. Mein Leben ist jetzt besser, es wäre idiotisch, das abzustreiten. Ich verstehe ja sogar, warum dich der Chef hat diese Erfahrung machen lassen …«
»Bitte nicht, Sweta.« Ich ergriff ihre Hand. »Sogar ich habe das begriffen, auch wenn es mir schwerer fiel. Wir müssen nicht mehr darüber reden.«
»Das will ich auch gar nicht.« Sweta trank ihren Wein und stellte das leere Glas ab. »Anton, was ich meine, ist, dass ich keine Freude sehe.«
»Wo?« Mitunter habe ich eine ziemlich lange Leitung.
»Hier. Bei der Nachtwache. In unserem Freundeskreis. Jeden Tag fechten wir irgendeine Schlacht aus. Mal eine große, mal eine kleine. Mit durchgedrehten Tiermenschen, mit Dunklen Magiern, mit allen Kräften des Dunkels zugleich. Wir spannen unsere Kräfte an, recken das Kinn vor, reißen die Augen auf, sind bereit, uns kopfüber in ein Feuergefecht zu stürzen oder uns mit dem nackten Hintern auf einen Igel zu setzen.«
Ich schnaubte vergnügt. »Was soll denn daran schlecht sein, Sweta? Ja, wir sind Soldaten. Alle bis auf den Letzten, von Julja bis zu Geser. Krieg ist keine lustige Sache, sicher. Aber wenn wir zurückweichen …«
»Was dann?«, antwortete Sweta mit einer Frage. »Kommt dann die Apokalypse? Seit Jahrtausenden kämpfen die Kräfte des Dunkels und des Lichts gegeneinander. Gehen sich an die Gurgel, hetzen ihre Menschenarmeen aufeinander, alles um der großen Ziele wegen. Sind die Menschen seitdem denn wirklich nicht besser geworden, Anton?«
»Doch, das sind sie.«
»Seit der Zeit, da die Wachen ihre Arbeit aufgenommen haben? Anton, mein Lieber, du hast mir vieles erzählt, und du bist nicht der Einzige gewesen. Dass der entscheidende Kampf um die Seelen der Menschen geführt wird, dass wir Gemetzel en masse verhindern. Vielleicht tun wir das ja. Die Menschen bringen sich selbst gegenseitig um. Viel stärker als vor zweihundert Jahren.«
»Willst du damit sagen, dass unsere Arbeit schadet?«
»Nein.« Müde schüttelte Sweta den Kopf. »Das will ich nicht. So arrogant bin ich nicht. Ich will nur sagen, dass wir vielleicht in der Tat … das Licht sind. Nur … In der Stadt gibt es jetzt nachgemachte Weihnachtsspielsachen. Sie sehen aus wie die echten, aber man hat keine Freude an ihnen.«
Sie brachte den kurzen Witz mit völlig ernster Stimme vor, ohne den Ton zu ändern. Sie sah mir in die Augen. »Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Sicherlich. Die Dunklen richten jetzt weniger Böses an«, fuhr Swetlana fort. »Das sind unsere Kompromisse, eine gute Handlung für eine böse Handlung, die Lizenzen zum Mord und zur Heilung lassen sich rechtfertigen, das glaube ich gern. Die Dunklen richten weniger Böses an als früher, und wir richten von unserer Bestimmung her nichts Böses an. Und die Menschen?«
»Was haben die Menschen damit zu tun?«
»Aber um sie geht es doch! Wir verteidigen sie. Uneigennützig und unermüdlich. Aber warum geht es ihnen dann nicht besser? Sie übernehmen von sich aus die Arbeit des Dunkels. Warum? Haben wir womöglich irgendwas verloren, Anton? Jenen Glauben, mit dem Lichte Magier Armeen in den Tod schickten, aber auch selbst in den vordersten Reihen kämpften? Die Fähigkeit, nicht nur zu verteidigen, sondern auch Freude zu spenden? Was nützen starke Mauern, wenn es die Mauern eines Gefängnisses sind? Die Menschen haben die richtige Magie vergessen, die Menschen glauben nicht an das Dunkel, aber auch nicht an das Licht! Anton, wir sind Soldaten. Richtig! Aber eine Armee liebt man nur, wenn Krieg herrscht.«
»Es herrscht Krieg.«
»Wer weiß denn das?«
»Wir sind vermutlich nicht ganz Soldaten«, räumte ich ein. Von der eigenen, lang gehegten Position abzulassen ist immer unangenehm, aber ein anderer Ausweg blieb mir nicht. »Sondern eher Husaren. Tram, pam, pam
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