10 - Das Kloster Der Toten Seelen
sicher einen günstigen Augenblick abgewartet, hat den Richter umgebracht und ist geflohen.«
»Weit ist er aber nicht gekommen, oder?« meinte Fidelma rasch. »Er ist vielmehr in allernächster Nähe geblieben, bis ihr dawart.«
»Er war eben ein Schwachkopf.«
»Ein Schwachkopf, aber dennoch ein gemeiner Mörder, den ihr auf der Stelle aufhängen mußtet?«
»Was ich auch mit einem tollwütigen Hund tun würde«, antwortete Iestyn mürrisch.
»Also habt ihr den Jungen umgebracht, ohne ihm eine Chance einzuräumen?« entgegnete ihm Eadulf scharf.
»Umgebracht?« Der Bauer geriet allmählich außer sich. »Wage du es ja nicht, mir gegenüber von Mord zu sprechen, du Sachse. Dein Volk hat genug Blut an den Händen. Mein Großvater war ein kluger, gebildeter Mann, der Latein lesen konnte. Er hat an der Schule von Illtyd gelernt, als Gildas der Weise dort auch Schüler war. Er besaß eine Kopie des Buches, das Gildas geschrieben hat …«
» De Excidio et Conquestu Britanniae , verfaßt um 547«, murmelte Eadulf leise vor sich hin. »Das habe ich gelesen.«
Iestyn schien kurz aus der Fassung gebracht. Dann fuhr er fort: »Ich kenne den Titel nur, wie ihn mir mein Großvater übersetzt hat, er lautet: ›Der Fall und die Eroberung Britanniens.‹ Mein Großvater las mir aus dem Buch vor und übersetzte mir das Gelesene. Ich habe daraus von der Falschheit der Sachsen genug erfahren. Leider kann ich kein Latein und vermag das Buch nicht selbst zu lesen.«
»Könntest du es lesen, so wäre dir vielleicht aufgefallen, daß Gildas schärfste Kritik an den Königen der Britannier übt und sie für ihre Schandtaten verurteilt«, erwiderte Fidelma. »Seine Schlußfolgerung ist, daß die Eroberung durch die Sachsen eine Strafe ist, die Gott deinen Vorfahren wegen ihrer Sünden auferlegt hat.«
Iestyn drehte sich ohne ein weiteres Wort um, hievte sich auf seinen Karren und setzte den geduldigen Esel in Bewegung.
»Was machen wir nun?« frage Eadulf, während sie dem wütenden Bauern hinterherblickten.
»Wir haben jetzt genügend Leute in Aufregung versetzt«, antwortete Fidelma. »Vielleicht wird das Steinchen, das wir ins Wasser geworfen haben, etwas bewirken durch die konzentrischen Kreise, die dabei entstehen. Warum hast du Iestyn gefragt, ob er an dem bestimmten Morgen noch jemand anderem im Wald begegnet ist?«
»Erinnerst du dich nicht, daß Buddog sagte, sie hätte ihn an jenem Morgen durch den Wald kommen sehen?«
Fidelmas juchzte auf und lachte mit einemmal schelmisch.
»Das hatte ich ganz vergessen, Eadulf. Du bist ein Schatz!«
Eadulf war verwundert über ihre Reaktion und sagte ihr das.
Fidelma hakte sich bei ihm unter. »Ich habe das Gefühl, daß uns schon bald die konzentrischen Kreise im Wasser erreichen werden.«
K APITEL 15
Buddog brachte Eadulf das Abendessen; sie machte einen recht verdrießlichen Eindruck. Bald gesellte sich Fidelma zu ihm. Die Haushälterin schenkte ihr kaum Beachtung und verschwand.
»Was ist los?« fragte Eadulf und nahm sich etwas von dem Schmorfleisch.
»Ich hatte gehofft, daß Elen hier wäre, damit wir unsere aufschlußreiche Unterhaltung mit ihr fortsetzen könnten.«
In gemeinschaftlichem Schweigen verzehrten sie ihr Abendbrot. Eine nervöse, tölpische junge Magd trat ein, um den Tisch abzuräumen.
»Alle scheinen heute abend fort zu sein. Weißt du, wo Lady Elen ist?« sprach Fidelma sie an.
»Sie ist weg, Schwester.« Die Magd schaute unruhig um sich.
»Weg?« fragte Fidelma.
»Kurz nach eurer Rückkehr verließ sie das Haus.« Das Mädchen blickte ängstlich zur Tür und holte ein kleines gerolltes Pergament unter ihrer Bluse hervor. »Sie bat mich, dir das heimlich zu geben. Da steht etwas drauf, doch ich kann es nicht lesen, und sie wollte mir auch nicht sagen, um was es sich handelt.«
Fidelma schaute auf das Pergament aus Ziegenleder, es enthielt eine lateinische Botschaft. »Du wirst das doch aus deinem Gedächtnis streichen, nicht wahr?« sagte sie zu der Magd.
»Natürlich, Schwester. Elen behandelt mich gut. Eines Tages hoffe ich …«
»Hoffst du was?«
»Ich bin eine Geisel, Schwester. Vor zwei Jahren wurde ich bei dem Überfall auf das Königreich Gwent von Gwnda gefangengenommen. Ich möchte nicht wie Buddog enden. Sie ist seit Ewigkeiten hier Dienerin. Elen versprach mir, daß ich eines Tages vielleicht frei sein könnte.«
»Deo volente« , seufzte Fidelma und fügte hinzu, da die Magd kein Latein verstand: »So es Gottes Wille
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