1019 - Das Vampirfenster
erwiesen.«
»Ja, das glaube ich auch«, erwiderte Gilian. Sie sah aus, als wollte sie sich vor mir zurückziehen. Jedenfalls schaute sie mich nicht an.
Sie hatte auch dem Fenster den Rücken zugedreht und ließ ihren Blick zum Ort hin gleiten, der wie eine kleine, aufgestellte Kulisse unterhalb von uns lag.
»Ich möchte mir die Kirche von innen ansehen«, sagte ich. »Ist das möglich?«
Gilians Kopf ruckte hoch. »Von innen? Die Kirche?«
»Vor allem das Fenster.«
»Ja, das ist möglich, John. Warum nicht? Was erhoffen Sie sich denn davon?«
»Keine Ahnung. Aber jedes Fenster hat ja zwei Seiten. Vielleicht entdecke ich den Schatten.«
»Nein, das bezweifle ich. Das kann nicht sein. Keinen Schatten. Er erscheint nur in der Nacht.«
»Zu hören war er jedenfalls.«
Sie hob die Schultern. »Gut, John, wenn Sie unbedingt wollen, schauen Sie sich die Kirche an. Wir können ja gemeinsam die Besichtigung durchführen.«
»Sehr gern.«
Diesmal stieg ich als erster die Leiter hinab. Mein Verhältnis zu Gilian Kyle hatte sich auch in den letzten Minuten nicht geklärt. Nach wie vor kam ich mit ihr nicht zurecht, und meine Skepsis wich auch nicht, als wir den Boden erreicht hatten und auf das Portal der Kirche zuschritten. Gilian hielt den Kopf gesenkt. Wann immer es ging, wich sie meinem Blick aus.
Was hatte sie zu verbergen? Warum war sie nervös? Ihr schien selbst aufzufallen, daß sie sich etwas ungewöhnlich verhalten hatte.
Jedenfalls überwand sie sich und lächelte mich an, bevor sie eine Frage stellte. »Was macht eigentlich Ihre Hand?«
»Wieso?«
»Die Verletzung, die ich Ihnen zugefügt habe.«
»Ach!« Ich winkte ab. »Den Kratzer meinen Sie. Nichts, gar nichts. Da ist wirklich alles verheilt. Sie brauchen sich deshalb keine Sorgen zu machen.«
»Habe ich aber.«
»Vergessen Sie es. Bitte.«
»Okay.«
Ich roch das alte, grau gewordene Mauerwerk. Der Geruch von Steinen wehte mir entgegen. Auch von Mörtel und Staub. Das Gerüst umschlang die gesamte Kirche und zog sich auch dort entlang, wo wir den Eingang sahen und stehenblieben.
Die Tür sah staubig aus. Auch sie mußte renoviert werden. »Abgeschlossen ist wohl nicht – oder?«
»Nein, John, Sie können hineingehen.«
»Sie nicht?«
Ihr Lächeln wirkte unecht und verzerrt. »Ich weiß es noch nicht. Ich kenne die Kirche ja. Ihre Aussagen vorhin haben mich schon etwas durcheinandergebracht. Deshalb möchte ich in den nächsten Minuten für mich allein bleiben und erst einmal nachdenken. Kommen Sie allein zurecht?«
»Ich denke schon.«
Gilian streichelte über meine Schulter hinweg. »Vielleicht komme ich nach.«
»Gut.« Ich wollte mich nicht mehr länger aufhalten lassen und öffnete die schwere Tür. Sie klemmte, und aus der Kirche selbst wehte mir Kühle entgegen, vermischt mit Staub- und Kerzengeruch. Ich brauchte nicht einmal weit zu gehen, um mich zu wundern, denn die Kirche war tatsächlich leergeräumt worden. Ich sah kein Bild mehr, keine Figur, auch der Altar zeigte eine schon erschreckende Leere. Nicht einmal Kreuze hingen in seiner Nähe, von den Seitenwänden ganz zu schweigen. Die Bestuhlung war nicht entfernt worden. Dafür hatte man sie mit grauweißen Tüchern abgedeckt. So waren die Bänke unter einem gespenstischen Meer verschwunden.
Das Taufbecken befand sich hinter meinem Rücken, als ich mir die Kirche anschaute, wobei mich vor allen Dingen das hohe Fenster interessierte, von mir aus gesehen jenseits des leeren Altars.
Ja, es bestand aus farbigen Glasstücken. Selbst hier wirkten sie sehr düster, als hätten sie etwas zu verstecken. Das Außengerüst war nicht zu sehen, mir fehlte sowieso der Durchblick. Das war durchaus sinnbildlich gemeint, denn mit diesem Fall kam ich nicht zurecht. Ich hatte einfach das Gefühl, immer nur einen Teil der Wahrheit erfahren zu haben. Damit schloß ich Gilian Kyle mit ein.
Eigentlich hätte sie mit mir zusammen die Kirche betreten müssen.
Darauf hatte sie verzichtet. Sicherlich nicht ohne Grund.
Fürchtete sie sich davor? Kaum, sonst hätte sie nicht an einem Kirchenfenster gearbeitet. Trotzdem mußte sie Probleme haben, mit denen sie sich herumquälte.
Ich kam dem Altar immer näher und damit auch dem Kirchenfenster, in dem Gilian den Schatten entdeckt hatte. Meine Schritte waren kaum zu hören, denn ich ging so leise wie möglich. Ich roch den Staub, an die Kühle hatte ich mich inzwischen gewöhnt, und auch die verdeckten Bänke störten mich nicht weiter.
Zwei
Weitere Kostenlose Bücher