1019 - Das Vampirfenster
entdeckte kein Motiv dahinter. Ein Schatten, der sich in einer Kirche oder in einem Kirchenfenster versteckte, das fand ich schon sonderbar.
Es war nicht mehr so sonnig wie noch vor kurzem, als wir vor dem Hotel unter den Bäumen gesessen hatten. Lange Schleierwolken hatten sich über den Himmel gelegt. Sie sahen aus wie grauweiße Fahnen und schluckten einen Teil des Lichts.
Die Außenmauern der Kirche sahen grau und schmutzig aus. Bestimmt hatten sich im Lauf der Zeit auch tiefe Furchen und lange Risse im Mauerwerk gebildet, so daß eine Renovierung unabänderlich war. Niemand konnte einen Einsturz riskieren, wenn sich Gläubige in der Kirche befanden.
Ich spürte den eigenen Herzschlag. Das war etwas verwunderlich.
Bei mir eigentlich ein Zeichen der inneren Nervosität und Gespanntheit. Etwas Verdächtiges hatte ich bisher nicht gesehen, so gab es kaum einen Grund.
Vor dem Gerüst blieben wir stehen. Gilian deutete in die Höhe.
»Da ist also mein Arbeitsplatz.«
»Ziemlich hoch.«
»Es geht. Ich habe schon in luftigeren Höhen gearbeitet.«
Durch die über unseren Köpfen querlaufenden Bohlen war uns die Sicht auf das Fenster genommen. Es gab ja nicht nur einen Querweg, sondern deren gleich drei. Sie verteilten sich in verschiedenen Etagen. Wir brauchten nur bis zur zweiten, wie mir Gilian erklärte.
»Von dort aus habe ich großen Zugriff.«
»Dann gehen Sie mal vor.«
»Klar.« Sie lächelte. »Mach ich.«
Gilian Kyle fühlte sich in ihrem Element. Die Leichtigkeit, mit der sie die Sprossen der Leiter hochstieg, ließ darauf schließen, daß sie dies nicht zum erstenmal tat.
Ich blieb ihr auf den Fersen. Sehr schnell sah ich vor mir den unteren Teil des Fensters. Die dunklen Glasscheiben bildeten ein Mosaik.
Es war mir kaum möglich, die einzelnen Farben zu unterscheiden, weil viel Schmutz und Dreck dran klebte. Hier war weder etwas gereinigt noch renoviert worden.
Vor mir betrat Gilian Kyle die zweite Ebene. Bevor sie auf dem Brett weiterging, schaute sie nach unten, um zu sehen, wie es mir ging. Ich hatte mich auch an die Kletterei gewöhnt, winkte ihr noch zu, dann mußte sie zurückgehen, um mir den nötigen Platz zu schaffen, damit ich den Steg betreten konnte.
Das Holz war dick und bog sich nicht durch. Auch die Geländer waren fest zusammengesteckt worden und hielten einem bestimmten Druck ebenfalls stand.
Gilian war bereits bis zur Mitte des Stegs durchgegangen. Dort wartete sie auf mich, denn ich ließ mir mehr Zeit. Ich ging an dem Fenster vorbei, langsam, da ich mir einen ersten Eindruck verschaffen wollte. Viel war auch jetzt nicht zu sehen. Dunkles Glas, noch schmutzig, so daß die Farben verschwanden. Aber weiter höher hatte sich schon etwas getan. Da war die Arbeit der Restauratorin zu sehen, denn das Glas schimmerte heller. Gilian hatte auch die Kittmassen zwischen den einzelnen Scheiben wieder verstärkt oder gar ausgewechselt.
Neben ihr blieb ich stehen und suchte vergeblich nach einem oder mehreren Motiven innerhalb des hohen Kirchenfensters. Für mich war die Ansammlung der Scherben ein ziemliches Durcheinander.
»Sie kommen damit nicht zurecht, wie?« fragte Gilian.
»Noch nicht.«
»Man muß einen Blick dafür haben, John. Aus der Entfernung läßt sich so ein Kirchenfenster immer besser betrachten, das muß ich auch zugeben. Wir stehen einfach zu nahe dabei.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Können Sie mir sagen, welches Motiv dieses Fenster beinhaltet?«
»Mehrere. Nicht nur eines. Szenen aus der Kirchengeschichte des Christentums. Wer den Grundaufbau kennt, sieht die Abbildung einiger Heiliger und Mystikerinnen. Man muß schon sehr genau hinschauen. Auch der Heilige Antonius ist dort vertreten.«
»Aha.«
Meine Antwort hatte ihr nicht so gut gefallen. »Sind Sie skeptisch, John? Glauben Sie mir nicht, daß ich mich verfolgt fühle und daß dieses Kirchenfenster damit zu tun hat?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Die Kirche hat ja nun mal mit Glauben zu tun. Nur hilft uns das in unserem Fall nicht weiter. Wir brauchen Beweise, denke ich.«
»Sicher.«
»Zum Beispiel einen Schatten.«
»Es gibt ihn nur in der Nacht.«
»Klar. Das wäre auch die natürlichste Erklärung. Daran kann ich nichts Ungewöhnliches erkennen.«
»Ich schon, wenn sich der Schatten von allein bewegt und mich dabei bedroht. Ich habe ihn doch hier im Fenster abgemalt gesehen. Eine gewaltige Gestalt. Größer als ein Mensch. Düster und mit einem bleichen Gesicht.«
»Oh!
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