1019 - Das Vampirfenster
Wolken und dem Boden zugleich gefressen.
Das Fenster aber blieb, obwohl sich darin etwas bewegte. Es war die Gestalt, die nicht mehr ruhig sein konnte. Noch war sie gefangen in einer dicken Glasschicht, doch sie traf erste Anstalten, sich aus dieser Gefangenschaft zu befreien. Sie reckte sich, drückte die Schultern in die Höhe, bewegte auch ihre Arme, streckte sie in die Höhe, wobei sie die Hände reckte, als wollte sie mit den Fingerspitzen den oberen Rand des Fensters erreichen, was allerdings unmöglich war.
Die Gestalt blieb wie ein Turmspringer auf dem Brett stehen. Sie wartete ab, aber sie wippte nicht. Sie starrte nur nach vorn in die Dunkelheit hinein, wie jemand, der nach einem bestimmten Punkt Ausschau hält, der für ihn sehr wichtig ist.
Zeit verstrich. Noch immer blieb die Gestalt bewegungslos auf der Stelle stehen. Ihre Augen waren nicht geschlossen. Rötliche Streifen schimmerten in den Augäpfeln.
Die Gestalt suchte etwas. Sie zitterte plötzlich. Sie hob die Schultern an. Dann öffnete sich mit einer zuckenden Bewegung ihr Mund, um einen Stöhnlaut zu entlassen.
Er wehte in die Finsternis der frühen Nacht hinein. Er war mit einem Vorboten zu vergleichen, denn erst als der Laut verklungen war, kam auch Bewegung in die Gestalt.
Wieder sah es so aus, als sollten die einzelnen Glasteile durch eine lautlose Explosion auseinandergerissen werden, denn das Glas wellte sich nach vorn.
Aber es brach nicht. Kein einziger Laut war zu hören. Es blieb still wie in einem Grab.
Keine Scherbe fiel zu Boden, als die Gestalt ihr Versteck und gleichzeitiges Gefängnis verließ. Sie hätte zu Boden fallen müssen, ruckte auch ein Stück nach unten, aber landete mit beiden Füßen auf dem Steg.
Dort blieb sie stehen.
Ihr Blick glitt in die Dunkelheit hinein und vor allem dorthin, wo die Lichter der Ortschaft blinkten. Es waren nicht viele, doch die wenigen reichten aus, um der Gestalt die Richtung anzuzeigen. Sie öffnete ihren Mund. Der dunkle Eingang eines Rachens entstand. Zwei Zahnreihen waren zu sehen, wobei sich die obere von der unteren abhob, denn aus ihr wuchsen zwei spitze Zähne.
Vampirhauer!
Tief aus dem Rachen lösten sich unheimlich klingende Laute. Eine Mischung aus Keuchen und Ächzen. Sie erinnerten sogar an das Schnauben eines Pferdes und waren für den Blutsauger so etwas wie ein Startsignal. Er blieb nicht mehr stehen. Als er seine Hand auf das Geländer gelegt hatte, stützte er sich ab und stand einen Moment später auf dem Querbalken wie ein Turner.
Er schaute in die Tiefe.
Es war kein Grund zu sehen.
Nur Dunkelheit. Gefährlich, wenn nicht tödlich für einen Sprung nach unten.
Darauf nahm der Vampir keine Rücksicht. Noch einmal drückten seine Füße gegen das Geländer. Dann beugte er den Oberkörper nach vorn und stieß sich ab.
Er sprang und schwebte zugleich.
Die Dunkelheit griff zu und schützte ihn. Aber er landete nicht am Boden wie es normal gewesen wäre, sondern breitete seine Arme aus und glitt hinein in die Nacht.
Plötzlich waren die Arme zu Schwingen geworden oder zu Flügeln wie bei einem riesigen Insekt oder bei einer Fledermaus.
Die Gestalt war frei – endlich. Das Blut eines Todfeindes hatte dafür gesorgt.
Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten. Ihr neues Ziel war Lyminge und die dort lebenden Menschen…
***
Gilian Kyle hatte zwar nicht gelogen und tatsächlich Kopfschmerzen gehabt, aber so schlimm wie sie von ihr geschildert worden waren, peinigten die Schmerzen sie nicht. Sie hätte sie locker ertragen, aber sie hatte allein bleiben wollen, weg von Sinclair, den sie falsch eingeschätzt hatte.
Ja, falsch!
Daran mußte sie denken, als sie im Bad stand und sich im Spiegel anschaute. Sie mußte ihre Meinung über ihn revidieren, denn er war ein gefährlicher Mann.
Allein das Kreuz hatte sie abgeschreckt. Sie haßte es nicht, sie fürchtete sich auch nicht direkt davor, aber sie hatte schon die in ihm steckende Kraft gesprüht. Dieses Kreuz mußte etwas Besonderes sein, das sich von allen anderen unterschied. Und es war eine Waffe, das wußte sie auch. Lange genug hatte sich Gilian mit den Vampirlegenden beschäftigt. So war ihr auch bekannt, daß Kreuze wie dieses Blutsauger vernichten konnten. Sie fürchteten sich davor, sie gerieten in Todesängste, und es gab für sie kein Mittel gegen die Kreuze. Das war schon damals so gewesen, das hatte sich auch heute nicht verändert.
Bevor sie sich hinlegte, ging sie zum Fenster und öffnete es. Nicht
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