1046 - Der Hexenturm
Ich wollte ihr nicht widersprechen. Hier hatte eine Mutter ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Ich glaubte an die Verbindung zwischen ihr und dem Kind, die sich wie ein Band gespannt hatte.
Das Weinen blieb. Wir taten nichts anderes, als starr auf der Stelle zu sehen und zu lauschen. Was als laut normal war, das empfanden wir in diesem Fall als furchtbar. Jedes Kind weint einmal, wenn es Hunger oder Durst hat, doch in dieser Situation mußten wir einfach von einem anderen Grund ausgehen.
Marek und die junge Mutter standen zwei Stufen hinter mir. Ich drehte mich auf der Stelle um und sah, daß sich Mara an den Arm des Pfählers geklammert hatte. Ihr Gesicht war verzerrt, der Mund halb geöffnet, als wolle sie im nächsten Moment einfach nur schreien. Dabei drang der Atem stoßweise aus ihrem Mund. Er schlug mir als warmer Hauch entgegen. Zwischendurch flüsterte sie immer wieder den Namen ihrer Tochter. Sie war davon überzeugt, daß Jana weinte, und wir mußten es ihr abnehmen.
Marek redete mit ihr. Er versuchte es, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sehr heftig protestierte sie, dann ließ sie Marek los und deutete an mir vorbei die Treppe hoch.
Es war klar, sie wollte so schnell wie möglich hin, aber wir mußten trotzdem achtgeben. Dieser Turm war der Bereich der Eulen, auch wenn wir sie bisher hier noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Ich wollte jedenfalls keinen schnellen und überraschenden Angriff erleben.
Mara dachte da anders. Sie handelte, wie eine Mutter eben handeln mußte. Marek wurde überrascht, ich ebenfalls, denn Mara stieß zuerst der Pfähler zurück, damit er sie nicht mehr behinderte, dann sprang sie mit einem Satz die nächsten Stufen hoch, streckte auf dem Weg zu mir ihre Arme vor, und beide Hände trafen mich in Bauchhöhe. Mein Stand war nicht der sicherste. Ich wurde zurückgedrückt und hatte dabei Glück, daß ich nicht abrutschte, denn die Wand hielt mich auf. Durch meine hastigen Bewegungen tanzte der Lichtstrahl wie ein zackiger Blitz durch die Dunkelheit und huschte auch über die Gestalt der nach oben laufenden Mara hinweg.
Sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Das Weinen war für sie der Auslöser gewesen. Sie hatte alle Regeln der Vernunft über Bord geworfen, und sie ließ sich nicht mehr aufhalten, obwohl Marek ihren Namen sehr laut rief.
Wir hörten sie schreien. Sie war schnell und baute ihren Vorsprung dementsprechend aus. Ihr kam zugute, daß ich Mühe hatte, mich zu fangen.
Zwar war die Wand als Stütze vorhanden gewesen, doch ich war mit dem rechten Ellbogen daran abgerutscht, und das hatte mich wieder etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.
Bevor ich mich an die Verfolgung machte, war Mara schon um eine Biegung verschwunden, so daß sie auch der Schein meiner kleinen Leuchte nicht mehr erwischte.
Natürlich wollte auch Marek ihr folgen. Aber ich war schneller. Ich hörte sie. Ihre Schritte klangen durch den dichten Bewuchs auf den Stufen nicht hallend, sondern dumpf - und verstummten plötzlich. Dafür vernahm ich noch in der gleichen Sekunde einen Aufschrei, als hätte irgend etwas Mara erschreckt. Ich lief weiter.
Drückte mich um die Biegung herum. Einen Moment später fand das Ende des Lichtstrahls ein Ziel.
Es war Maras Rücken.
Sie war nicht mehr weitergelaufen und stand nun auf einer Stufe, als hätte man sie dort festgenagelt.
Auch ich blieb stehen. Allerdings hinter Mara und schaute an ihr vorbei.
So sah ich auch, was sie sah. Aufgehalten worden war sie nicht von einer Eule, wie es natürlich und auch logisch gewesen wäre, nein, zwei Stufen über ihr stand eine Frau.
Auf mich wirkte sie irgendwie alterslos. Mehr Schatten als Mensch. Es mochte auch an ihrer Kleidung liegen, denn sie trug ein langes Kleid und zusätzlich einen Umhang, der auch ihren Kopf einschloß, wobei das Gesicht freiblieb.
Es war ein sehr starres Gesicht mit ebenfalls starren Augen und auch einem Mund, der sich nicht bewegte. Ich hatte diese Person, die wie aus dem Nichts erschienen war, noch nie zuvor gesehen. Im Gegensatz zu meinem Freund Frantisek Marek, dessen Atem über meinen Hinterkopf hinwegglitt.
»Das ist sie!« hauchte er.
»Wer?«
»Genova, die Nonne…«
***
Bill Conolly hatte es auf dem Friedhof nicht ausgehalten. Er war bis zum Eingang des Turms gegangen, hatte aber dort wieder kehrtgemacht und war zurückgekehrt.
»Und?« fragte Palu.
»Nichts und«, erwiderte Bill. »Ich habe alle drei gehen lassen, obwohl es mir nicht paßt.«
Palu hob die
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