1046 - Der Hexenturm
meiner Seite stand, dann würde ihr das Kreuz nichts antun und ihr möglicherweise noch einen Kraftschub geben.
Sie sah es.
Ich beobachtete ihr Gesicht, und mir fiel natürlich das Erstaunen, das Unbegreifen und vielleicht auch das leichte Entsetzen auf, das ihre Züge zeichnete.
Sie ging zurück. Sie wollte etwas sagen. Ihr Mund öffnete sich, und in diesem Moment fing das Kreuz an zu strahlen. Nicht so stark, daß sein Licht geblendet hätte, aber die Strahlen waren da. Sie bildeten eine Art Wolke, die sich um das Kreuz herum verteilte und auch von Genova gespürt werden mußte.
Ihre Gestalt löste sich auf eine rätselhafte Art und Weise auf. Auf mich wirkte es so, als wollte sie sich einfach zurück in eine andere Welt ziehen, doch sie blieb vorhanden, wenn auch nur noch als schwaches Abbild. Ihre Stimme war ebenfalls noch da. Sie sprach mich an, und mir kam es vor, als würden uns Meilen trennen.
»Du hast etwas, das stark ist. Ich mag es, aber es macht mir auch große Angst und…«
»Du stehst nicht auf der anderen Seite, Genova. Ich wollte dir nur zeigen, daß du uns Vertrauen schenken kannst. Wir sind nicht unvorbereitet hergekommen.«
»Es wird sie verbrennen!« hörte ich ihre Stimme. »Es wird die verdammten Hexen-Eulen verbrennen. Ich weiß es. Ich habe seine Macht gespürt. Es ist die Kraft des Guten. Niemand kann sich dagegenstemmen. Es ist einfach wunderbar…«
»Ja. Und deshalb wirst du uns jetzt nicht mehr aufhalten. Wir sind dir dankbar, aber die Rettung der Kinder, falls sie noch möglich ist, nehmen wir in die Hände…«
Diesmal erhielt ich keine Antwort. Ich wußte auch nicht, ob die Nonne nun völlig verschwunden war oder sich noch in der Nähe aufhielt, als unsichtbare Person. Jedenfalls hatte mir diese Begegnung schon einiges gebracht. Ich wußte nun, wo ich hinzugehen hatte. Die Kinder waren nicht weit von uns entfernt. Alles deutete darauf hin, daß sie noch lebten, nur das zählte im Moment. Die Existenz der verdammten Hexen-Eulen war dabei zweitrangig geworden.
Ich drehte mich auf der Stufe stehend um. Frantisek und Mara standen einige Stufen tiefer. So wie sie aussahen, hatten sie alles gehört, und sie blickten erstaunt und ungläubig zu mir hoch, als könnten sie das Gehörte noch nicht fassen.
Ich wollte sie etwas aufmuntern und zeigte deshalb ein Lächeln. »Muß ich noch etwas erklären?«
»Nein, John.«
»Gut. Was ist mit Mara?«
»Sie ist völlig durcheinander. Ihr habt euch unterhalten. Sie konnte nichts verstehen. Ich habe versucht, hin und wieder zu übersetzen. Jetzt weiß sie einigermaßen Bescheid und hofft, daß ihre kleine Tochter noch lebt.«
»Das glaube ich auch.«
Mara hatte gemerkt, daß wir über sie gesprochen hatten. Sie wußte nur nicht, was sie sagen sollte, aber sie drehte sich Marek zu und redete auf ihn ein.
Ich verstand so gut wie nichts und konzentrierte mich auf das Gesicht des Pfählers, das Bedenken zeigte. Seine Antwort hörte sich ziemlich harsch an, und sie hatte auch getroffen, denn Mara verstummte. Sie wischte über ihre Augen, in denen es feucht schimmerte. Dabei holte sie Luft durch den offenen Mund, aber sie brachte kein Wort hervor.
Marek wandte sich an mich. »Wir können gehen. Ich glaube, daß Genova uns nicht daran hindern wird, das zu tun, was einfach getan werden muß.«
Damit war ich natürlich einverstanden. Allerdings wollte ich das Risiko so klein wie möglich halten und bat Marek deshalb, auf Mara zu achten. Für mich war sie ein Risiko, auch wenn sie völlig normal reagierte, wie es eine Mutter eben tat.
Der Pfähler stimmte mir zu. »Keine Sorge, sie wird immer in meiner Nähe bleiben. Aber wir können sie leider nicht zurückschicken.«
»Das ist klar.«
Als Marek noch einmal flüsternd auf die junge Mutter einsprach, drehte ich mich um. Mein Blick drang nicht weit, denn eine Innenwand versperrte ihn. Es war wieder eine Turmdecke, um die die Treppe herumlief, doch es konnte auch die letzte vor dem eigentlichen Ziel sein.
Genova hatte sich zurückgezogen. Sie würde sich auch so schnell nicht mehr blicken lassen, davon war ich überzeugt. Ich wußte jetzt mehr als noch vor einigen Minuten, und dieses Mehr an Wissen hatte in mir für eine starke Spannung gesorgt. Es war alles gleich geblieben und trotzdem anders geworden. Ich kannte Hintergründe und hatte auch Hoffnung erhalten.
Das Kreuz verschwand. Nicht unter meiner Kleidung, sondern in meiner rechten Tasche der braunen Winterjacke. Die Beretta saß
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