1050 - Die Nymphe und das Monster
glockenklar und einlullend.
Die beiden Warnerinnen hatten recht behalten. Dieser Gesang der Nymphen glich schon denen der Sirenen, der in der Odysseus-Geschichte erwähnt worden war. Nur gab es hier keinen, der mir die Ohren zugestopft hätte. Ich hätte sie mir schon selbst zuhalten müssen. Dazu war ich seltsamerweise zu schwach, denn ich schaffte es einfach nicht, die Arme in die Höhe zu bekommen und die Hände gegen meine Ohren zu drücken.
Stattdessen infiltrierte mich der Gesang der Nymphen immer stärker. Er schwoll an. Melodien, die mir fremd waren, mir aber trotzdem gefielen, bekam ich zu hören. Sie waren so herrlich, so lockend, und ich hatte nur Augen für den Teich mit seinem Strudel.
Die Nymphen erkannte ich viel deutlicher als zu Beginn. Sogar die Gesichter malten sich ab. Junge Gesichter, die zu den schlanken und auch jungen Körpern mit den jungen Brüsten und den langen Beinen paßten. Es entstand nichts in meiner Phantasie. Was ich hier erlebte, entsprach den Tatsachen, und es wurde mir nicht einmal bewußt, wie sehr mich der Gesang schon eingelullt hatte.
Ich war nach vorn auf den Teich zugegangen, ohne es bemerkt zu haben. Für meine Schuhe und für das, was vor den Füßen lag, hatte ich keinen Blick. Meine Beine bewegten sich automatisch, und mit dem nächsten Schritt trat ich bereits ins Wasser.
Die Nymphen wollten mich.
Ich wollte zu ihnen!
Eine unwahrscheinlich starke Sehnsucht steckte in mir. Es war einfach etwas Wunderbares und völlig Neues. Der Weg in den Teich war für mich der Weg ins Glück.
Noch einen Schritt!
Jetzt stand ich mit beiden Beinen im Wasser!
Zwar spürte ich die Flüssigkeit an meinen Füßen und auch an den Knöcheln, sie war auch wärmer, aber das störte mich nicht. Ich hob den rechten Fuß an und ging weiter. Wieder verschwand der Fuß im Wasser. Dabei trat ich auf die weiche Masse, die den Grund bedeckte. Für einen Moment steckte ich fest, denn der Schlamm war ziemlich zäh.
Aber nichts gegen den Gesang der Nymphen, der mich auch weiterhin so lockte.
Ich mußte hin, ich wollte hin, und ich würde auch zu ihnen in ihr Reich gehen, »John, du bist wahnsinnig! Verrückt – von allen guten Geistern verlassen…«
Eine kreischende Stimme, die nicht den Nymphen gehörte. Sie störte mich, denn sie sägte hinein in den wundervollen Singsang, als wollte sie jeden Ton einzeln zerstören.
Die Worte störten mich. Sie brachten mich durcheinander. Ich wollte sie weder hören noch wahrhaben. Ich schüttelte heftig den Kopf, weil ich sie so wegfegen wollte, aber die Stimmen blieben, und sie übertönten das Singen der Nymphen.
Wasser klatschte in meiner Nähe. Jemand fluchte ganz nahe bei mir. Dann brüllte die Stimme hinein in mein rechtes Ohr.
»Zurück, John, verdammt noch mal!«
Ich wußte nicht einmal, ob ich in den letzten Sekunden weitergegangen war oder nicht. Aber der letzte Schrei tat weh. Ich verzog das Gesicht und starrte dabei nach vorn.
Vor mir schaukelte das Wasser. Es drehten sich nicht nur die Innenwände des Trichters, die gesamte Fläche bewegte sich dabei von einer Seite zur anderen Trotzdem sah ich die herrlichen Körper, die feingschwungenen Gesichter, aber sie verschwanden von einem Moment zum anderen, und ich starrte zum Himmel und zugleich auf das Dach der Trauerweiden. Nicht freiwillig, denn jemand hatte mich gepackt und an mir gezerrt. Ich konnte mich nicht mehr halten und kippte zurück.
»Ziehen – ziehen, Madge! Zerr ihn zurück. Okay, das ist gut so! Das schaffen wir!«
Ich hing in einer schrägen Haltung. Meine Hacken schleiften über den Boden. Die fremden Hände hielten mich unter den Achselhöhlen fest. Noch immer sprachen Grace und auch Madge. Sie redeten aufeinander ein, sie fluchten sogar, und das Singen der Nymphen verlor sich allmählich, bis es völlig verschwand, so daß ich nur die normalen Geräusche in meiner Umgebung hörte. Der fremde, warme Atem streifte mein Gesicht, und ich hörte das Keuchen.
Ich war wieder da! Voll da. Und ich lag rücklings auf dem hartgefrorenen Boden. Die Augen hielt ich offen, um in die Höhe zu schauen. Über mir malten sich zwei Gesichter ab. Eines gehörte Grace, das andere der alten Madge. Ihr Kopftuch war verrutscht.
Ich sah die dünnen Haare, durch die die Kopfhaut schimmerte. Vor den Lippen der beiden Frauen dampfte der Atem wie Nebel.
Ich war ziemlich durcheinander, daran änderten die besorgten Blicke der Frauen auch nichts.
»Willst du nicht aufstehen, John?«
»Ja,
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