1054 - Die Leibwächterin
Auch andere Gäste blickten mehr oder weniger verstohlen zu ihr hin. Der Gang durch das Lokal glich einem Spießrutenlaufen.
Die Entscheidung stand dicht bevor. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Nervenkostüms. Die Normalität war vorbei. Sie stand dicht davor, den Graben zu überschreiten, der sie zu einer anderen Welt führte. Eine Welt, von der auch John Sinclair und Wladimir Golenkow berichtet hatten. Und sie war zu einer wichtigen Bohle auf diesem Weg geworden. Nur einbrechen durfte sie nicht.
Karina war froh, das Lokal verlassen zu haben. Der Gang zu den Toiletten war hell erleuchtet. Ziemlich abrupt stieß sie die Tür auf.
Eine im toten Winkel hinter der Tür sitzende Toilettenfrau erschrak so heftig, daß ihr beinahe die Illustrierte aus den Händen gefallen wäre.
Karina entschuldigte sich mit hastigen Worten. Die ältere Frau, die ihre Brille zurechtrückte, nickte ihr irgendwie gnädig zu. »Manche haben es eben eilig.«
»Stimmt.«
Karina verließ den Vorraum und betrat nebenan eine der Kabinen. Sie überlegte. Es war ihre letzte Chance. Sie hatte sich nie auffällig benommen, aber Costello war mißtrauisch geworden. Den Grund kannte sie nicht. Sie suchte ihn auch nicht bei sich selbst, sondern sah ihn darin, was vor ihnen lag.
Es war so spektakulär und abwegig, daß es niemand begreifen konnte. Aber gerade dieses Paradoxon war für einen Mann wie John Sinclair etwas Alltägliches.
Der Name wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie mußte etwas unternehmen. Eine zweite Chance erhielt sie nicht.
Ihre Gedanken rasten, als sie vor dem Waschbecken stand und sich im Spiegel sah. Besonders entspannt sah sie nicht aus, und plötzlich hatte sie die Idee.
Auch wenn das Lokal Costello gehörte und die Angestellten letztendlich nach seiner Pfeife tanzten, eine Toilettenfrau hatte wohl niemand auf der Rechnung. Sie konnte zum Joker in diesem Spiel werden.
Von nun an saß ihr die Zeit im Nacken. Einen Kugelschreiber trug sie bei sich. Papier gab es hier auch. Nur benutzte es Karina nicht, um sich die Hände damit abzutrocknen. Sie straffte es, legte es auf den Waschtisch und schrieb so schnell wie möglich eine Nachricht für John Sinclair. Sie faltete das Papier zusammen und holte aus der Tasche einen Geldschein.
Die Toilettenfrau schaute hoch, als Karina zurückkehrte. »War alles in Ordnung?« fragte sie.
»Ja, sehr. Darf ich Sie trotzdem noch um einen Gefallen bitten?«
»Kommt darauf an.«
Karina zeigte ihr das Geld. Die Toilettenfrau bekam glänzende Augen. »Was soll ich dafür tun?«
»Diese Nachricht bitte an der nächsten Polizeistation abgeben. Mehr nicht, Madam.«
»Das ist riskant.«
»Ich weiß.«
»Gerade hier, nicht?«
»Ich bitte Sie, Madam, tun Sie es trotzdem. Es ist ungemein wichtig.«
»Und wenn ich deswegen meinen Job verliere?«
»Das werden Sie nicht. Ich verspreche es Ihnen. Die Nachricht hat hier mit Ihrem Arbeitsplatz nichts zu tun. Sie können sich voll und ganz darauf verlassen.«
Die Frau überlegte noch. Dann nickte sie. »Geben Sie her.«
Karina war zufrieden. Sie schaute zu, wie sich die Toilettenfrau die Nachricht und das Geld in den Ausschnitt steckte, hauchte ihr noch ein »Danke« entgegen und verließ den Raum.
Draußen im Gang stand Franco vor ihr, als wäre er aus dem Himmel gefallen. Da er ihr den Weg versperrte, blieb auch Karina stehen. »Was ist? Schnüffelst du mir nach?«
»Nein, ich war nur nebenan.«
»Dann ist es ja gut.« Sie gab die Antwort so, daß er merkte, wie wenig sie ihm glaubte.
Gemeinsam gingen sie wieder zurück. Costello saß an seinem Platz und unterhielt sich mit dem Pächter, dessen Augen an den Lippen des Mafioso festhingen, um jedes gesagte Wort regelrecht aufzusaugen.
»So, Arturo, es ist alles besprochen. Machen Sie weiter so. Es war sehr gut hier.«
»Danke, danke.« Arturo stand auf, verbeugte sich und verschwand mit einem glücklichen Lächeln.
Costello wandte sich seinen beiden Leuten zu. »Ist alles in Ordnung?« fragte er.
Beide nickten.
»Sehr gut«, erklärte er, »dann steht unserer Abfahrt ja nichts im Wege. Es wird auch Zeit.«
Franco war wieder am Zug. Er schob den Rollstuhl vom Tisch weg und drehte ihn.
Es glich schon einer kleinen Prozession, als die Gruppe das Lokal verließ.
Karina ging vor. Wachsam wie immer. Innerlich aber aufgeputscht, denn sehr bald würde sie wissen, welchen Plan sich Logan Costello ausgedacht hatte…
***
Sie waren weitergefahren, und sie hatten London verlassen,
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