1059 - Der Scharfrichter
hatte ich mir diese Veränderung gewünscht, aber ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, daß sie auch eintreten würde. Es war für mich schon überraschend und so etwas wie ein Schock, ihn jetzt vor mir zu sehen. Ich wußte auch nicht, ob ich es mit einem feinstofflichen Gegner zu tun hatte oder mit einem, der aus Fleisch und Blut war. Im Moment war es mir auch egal, denn sein Anblick faszinierte mich.
So richtig beschrieben worden war er mir nicht. Jetzt konnte ich mir selbst ein Bild von ihm machen.
Eine gebeugte, nicht sehr groß wirkende Gestalt. Ein Monstrum, wie man vielleicht sagen konnte. Der recht muskulöse Körper, der dicke Hals, der oben leicht gekrümmte Rücken. Graues, ungesundes und auch ungepflegtes Haar. Ein dickes Gesicht, das mit Pusteln, Pocken und Narben übersät war. Eine Kleidung, die aus alten Lumpen bestand. Ein Seil, das mehrmals um die Hüfte geschlungen war und in dem ein Richtbeil steckte. Lange Arme, breite Hände. Füße, die schräg auf der Unterlage standen.
Der Scharfrichter wirkte wie auf dem Sprung. So, als wollte er seinen Platz jeden Augenblick verlassen. Ich schaute in seine Augen oder versuchte es. Es war zu dunkel, um den Ausdruck oder die Farbe zu erkennen, aber hell waren sie nicht, das erkannte ich schon. Augen, die möglicherweise an trübes Glas erinnerten, und die auch gut einem Toten gehören konnten.
Er tat nichts. Ich verhielt mich ebenfalls ruhig.
Es war ein Abtasten. Ein Ausloten. Wissen um den Feind sammeln. Ich glaubte daran, daß er auf seine Art und Weise Kontakt mit mir aufnehmen wollte, sonst wäre er nicht hier erschienen.
Natürlich fragte ich mich, wie das geschehen würde.
Er wartete noch. Die kräftigen Finger zuckten. Sie waren schmutzig. Ich konnte mir vorstellen, daß auch Blut daran klebte.
Plötzlich sprach er. Eine Stimme, die ihm gehörte, sich aber im gesamten Raum verteilte. Wie aus Lautsprechern dringend. Sie war tief, sie war rauh, wie aus einem Grab oder einer finsteren Höhle stammend.
»Ich werde mir meinen Lohn holen…«
Erste Worte, die als Erklärung dienten. Ich war im Moment noch zu überrascht, um sie nachvollziehen zu können. Außerdem sprach er weiter.
»Ich werde ihn mir auf meine Art und Weise holen. Man betrügt keinen Scharfrichter. Die Menschen hier haben mich betrogen. Sie haben mich benutzt. Ich habe ihnen gedient, aber sie haben es mir nicht gedankt und mich mittellos unter Schimpf und Schande fortgejagt. Weg von meinem Acker. Am liebsten hätten sie mich umgebracht, weil das Gesetz keinen Scharfrichter mehr wollte. Ich war der letzte, aber ich wollte mich nicht betrügen lassen. Ich habe viele Menschen gerichtet. Ich war ihr Todesbote, und ich weiß auch, daß mich die Seelen der Toten quälen und mich nicht sterben lassen wollen. So werde ich erst meine Ruhe finden, wenn ich meinen gerechten Lohn erhalten habe.«
»Lohn? Welchen Lohn?«
»Der Tod ist mein Lohn!« erklärte er mit seiner rauhen Stimme.
»Er ist wie ein Bruder zu mir. Ich werde mir all diejenigen holen, die mich früher verjagt haben.«
»Aber sie sind tot!« hielt ich ihm entgegen.
»Ja, die schon. Ihre Nachkommen nicht. Der Pope hat es gemerkt. Er wußte als einziger Bescheid, aber er hat sich nicht getraut, die Wahrheit zu sagen. Ich wußte aber nicht, ob ich mich auf ihn verlassen konnte. Deshalb habe ich ihn umgebracht. Ich kann auch diese Kirche wieder betreten. Ich sitze auf meinem alten Platz. Weiter durfte ich ja nicht gehen, das war mir verboten, obwohl ich einmal an den Herrgott geglaubt habe«, stieß er verächtlich hervor.
»Jetzt nicht mehr. Das ist vorbei. Jetzt ist für mich der Teufel wichtiger und nicht der andere. Ich finde nur Spaß daran, noch einmal in sein Haus einzukehren und ihn zu blamieren.«
Ich wußte jetzt einigermaßen Bescheid und sagte: »Es ist genug gestorben worden.«
»Nein, es müssen noch mehr in den Tod geschickt werden. Nicht alle werde ich lebendig begraben…«, er kicherte bei der Erinnerung an diese schrecklichen Taten. »Ich werde mich auch auf mein Beil verlassen, wie damals.«
»Nichts wirst du tun, Scharfrichter. Ich werde es zu verhindern wissen.«
»Wie denn?«
»Ich bin gekommen, um dich zu stellen und um den schrecklichen Taten ein Ende zu bereiten. Im Gegensatz zu dir stehe ich auf der richtigen Seite und nicht auf der des Teufels. Wir können es hier in der Kirche direkt austragen, ich bin bereit.«
»Ja, das weiß ich. Keine Sorge. Ich werde dich schon zu fassen kriegen.
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