1061 - Die Macht der Rhein-Sirenen
betrachten. Das tat sie nicht. Die Detektivin war auch während der Autofahrt voll im Dienst und telefonierte über ihr Handy mit unserem Freund Harry Stahl. Daß sie dabei einige Neuigkeiten erfuhr, bekam auch ich mit, da sie ziemlich laut sprach und den flachen Apparat etwas von ihrem Ohr abhielt.
So wußten wir schon vor unserer Ankunft am Ziel, daß es Zeugen gegeben hatte. Zwei Väter, die ihre Töchter verloren hatten, aber nicht mehr ohne Hoffnung waren, da sie die beiden, zusammen mit sechs anderen Verschwundenen, gesehen hatten.
Eine interessante Entwicklung, denn Harry Stahl tat Jane den Gefallen, sie zu beschreiben. Die Väter hatten sie weder als Menschen noch als Geister gesehen, mehr in einem Zwischenstadium, wenn ihre Aussagen stimmten.
Wir würden Harry bald persönlich sehen, deshalb unterbrach Jane auch das Gespräch.
»Du hast alles mitbekommen, John?«
»Zumindest das meiste.«
»Gut.«
»Jetzt willst du wissen, was ich davon halte?«
Sie lächelte. »Wäre nicht schlecht. Allerdings bezweifle ich, daß wir dabei so schnell auf den Punkt kommen können.«
»Das meine ich auch.«
Jane nagte an ihrer Unterlippe. »Leben sie oder sind sie tot? Haben die beiden Männer die Geistkörper ihrer Töchter gesehen? Astralleiber, die über den Wellen schwebten und denen man mit normalen Mitteln nicht beikommen kann?«
»Ich hoffe, daß es nicht so ist. Daß sie trotz allem leben und nur ihre Zustände wechseln können.«
»Durch wessen Macht? Glaubst du, daß die echte Hildegard von Bingen so mächtig gewesen ist?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Sie war schon eine außergewöhnliche Frau. Ihre Visionen haben die Menschen beeindruckt. Sie jst eine der schillerndsten Personen der Geistesgeschichte gewesen.« Ich nahm eine Hand vom Lenkrad und fuhr damit durch die Luft. »Was sie nicht alles gewesen ist oder gewesen sein soll!« Ich zählte auf. »Visionärin, Prophetin, Ärztin, Heilkundige. Auch Theologin, Klostergründerin und ebenfalls Mystikerin.«
»Das ist eine ganze Menge.«
»Denke ich auch.«
»Wenn man dir so zuhört«, sagte Jane lachend, »könnte man meinen, daß sie für dich das Größte überhaupt gewesen ist. Oder die Größte.«
»Zumindest war sie eine Frau mit besonderen Kräften.«
»Die sie ja nicht für sich behalten hat. Die Kräfte oder ein Teil davon gingen dann auf unsere Hildegarda über. Was daraus geworden ist, kann mir nicht gefallen.« Jane schüttelte den Kopf. »Du hast ja gehört, was ich mit Harry gesprochen habe. Etwas hat mich an diesem Gespräch gestört. Da bin ich ehrlich.«
»Weiß ich, Jane. Du denkst darüber nach, daß eine gewisse Hildegard Klose aus einer Klinik ausgebrochen ist.«
»Genau.«
»Das ist dann unsere Spur. Wir müssen in ihrer Vergangenheit nachforschen. Wir müssen wissen, warum sie eingeliefert wurde und so weiter.«
»Klar, Geisterjäger. Und wir müssen wissen, wo sie gelebt hat. Bestimmt in Bingen.«
Da gab ich ihr recht und fragte zugleich: »Hat Harry Stahl das noch nicht überprüft?«
»Ja und nein. Jedenfalls nicht so genau, sage ich mal. Er wollte auf uns warten.«
Ich hob die Schultern. »Das habe ich gar nicht mitbekommen, wenn ich ehrlich bin.«
»Dann geh mal zum Ohrenarzt.«
Ich grinste sie an. Jane saß zwar ruhig neben mir, kam mir aber vor wie auf dem Sprung. Es lag schon lange zurück, daß sie und ich allein unterwegs gewesen waren. Ich konnte mich sehr gut an gewisse Nächte erinnern, die uns beiden gutgetan hatten. Zwar sprachen wir jetzt nicht darüber, aber ich rechnete damit, daß wir die Nächte nicht unbedingt getrennt verbringen würden, obwohl natürlich der Form halber zwei Einzelzimmer in dem Hotel bestellt worden waren, in dem auch Harry Stahl logierte.
Jane sah chic aus. Sie trug zu den rehbraunen Jeans eine beigefarbene Jacke und darunter ein sandfarbenes Top. Ihren Mantel hatte sie auf den Rücksitz gelegt, den brauchte sie bei diesem Sonnenschein nicht. Bis Bingen waren es nur noch einige Kilometer. So kam Jane endlich dazu, sich die berühmte Gegend anzuschauen, denn auf dieser Schiene lagen noch bekannte Weinorte wie Rüdesheim, Assmannshausen oder Bacherach. Im Sommer und im Herbst war hier der Bär los. Besonders weil der Rhein zahlreiche Klubs aus dem In- und Ausland anzog. Da wurde dann geschluckt bis zum Abwinken. Das war Ballermann am Rhein.
Wir würden damit nicht konfrontiert werden. Dafür aber mit der kleinen Stadt Bingen, deren Mäuseturm ebenfalls berühmt war. Wir
Weitere Kostenlose Bücher