1071 - Die Urnen-Gang
wirkte. Aber sie schaute uns nicht feindlich an.
Suko und ich gingen so weit vor, bis wir den Beginn der vorderen Stoßstange erreicht hatten. Dann blieben wir stehen und lehnten uns gegen den Wagen.
Kathy sagte nichts. Außerdem standen wir so günstig, daß sie uns im Blickfeld hatte und nicht erst groß die Augen bewegen mußte, wenn sie uns anschauen wollte.
Ich hob die rechte Hand zum Gruß. »Hi, Kathy«, sagte ich, »wie geht es dir?«
Sie gab noch keine Antwort. Als sie dann etwas sagte, erstaunten uns die Worte. »Ihr habt Kathy gesehen?«
»Ja, warum nicht? Wir sehen dich doch jetzt auch, Kathy. Du stehst vor uns.«
»Ich bin es aber nicht.« Sie trat leicht mit dem Fuß auf. »Nein, ich bin nicht Kathy, auch wenn ich so aussehe. Ich bin Sonja…«
Sicher, sie war Sonja und nicht Kathy. Und sie hatte uns mit dieser Erklärung nicht einmal überrascht. Bei ihr war auch alles heil, im Gegensatz zu Kathy.
»Aber du siehst so aus wie Kathy«, sagte ich.
»Ja, das weiß ich. Wir sind Zwillinge. Aber jetzt bin ich allein. Kathy ist weg…«
Zwillinge also. Das erklärte einiges. Und trotzdem gab es noch genügend Rätsel. Es war schwer für mich, die Dinge so in die Reihe zu bekommen, daß sie stimmten oder sich zusammenfügten. Wenn wir davon ausgingen, daß Kathy kein normaler Mensch mehr war, wie mußten wir dann Sonja ansehen, die vor uns stand? War sie ein Mensch, oder war sie so etwas Ähnliches wie Kathy?
»Ihr habt sie aber gesehen, nicht?« fragte sie uns.
Das bestätigte diesmal Suko.
»Und? Bitte, sagt mir, wie es ihr geht? War sie in Ordnung? Konntet ihr mit ihr sprechen?« Sie streckte uns die Hände entgegen. »Es ist wichtig für mich, dies zu wissen, denn Kathy und ich meine Güte, wir haben immer schon zusammengehört. Und jetzt…« In ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen. »Ja, jetzt ist sie verschwunden. Einfach nicht mehr da.«
»Schon seit längerer Zeit?« fragte ich.
Sonja nickte. Sie wirkte jetzt sehr traurig. »Alle glauben, daß sie tot ist, aber ich nicht.«
»Warum glauben das alle?«
»Weil sie plötzlich nicht mehr da war. Verschwunden. Weg aus unserem Haus. Sie hat vorher nie etwas gesagt. Plötzlich war sie dann weg. Einfach so. Ich aber habe nie daran geglaubt. Für mich ist sie nicht tot, und das stimmt auch. Ich habe sie hier gesehen.« Sie zuckte die Achseln. »Manchmal zumindest.«
»Dann bist du heute hergekommen, um sie ebenfalls zu sehen?« fragte Suko.
Sonja lächelte verlegen. »Ich habe es versucht. Ich versuche es eigentlich immer. Ich möchte nicht, daß es sie nicht mehr gibt. Das ist einfach zu schlimm. Ich weiß auch, da sie lebt. Sie läuft dann hier am alten Bahnhof herum, denn das war ihr Lieblingsplatz. Auch meiner. Wir haben oft hier gespielt - früher.« Sie zog die Nase hoch. »Aber heute habe ich sie nicht gesehen.«
»Was sagen deine Eltern dazu?«
Sonja wurde noch trauriger. »Sie glauben mir nicht. Sie wollen es nicht glauben: Für sie ist Kathy nicht mehr da. Kann ich auch verstehen. Lange genug wurde nach ihr gesucht, aber man hat sie nie gefunden. Nur ich war davon überzeugt, daß sie noch lebt.«
»Wie alt bist du jetzt, Sonja?«
»Sechzehn.«
»Dann bist du schon fast erwachsen?«
»Ich weiß es nicht. Ich will es manchmal nicht. Ich will nur Kathy zurück. Oft bin ich in der Nacht aufgewacht, weil ich sie weinen und schreien gehört habe. Da war mir klar, daß es sie noch geben muß. Sonst hätte ich es nicht gehört. Das versteht ihr doch - oder?«
»Sicher«, gab Suko zu, um sofort eine Frage zu stellen. »Was hast du denn getan, wenn du sie gesehen hast? Bist du auf sie zugegangen? Hast du mit ihr gesprochen? Hat sie dir erzählt, wo sie jetzt ist?«
Es waren viele Fragen auf einmal. Sonja hatte uns mit großen Augen zugehört. »Das alles wollte ich«, flüsterte sie. »Genau das hatte ich vor. Aber ich konnte es nicht, weil Kathy dagegen war. Sie hat immer darauf geachtet, daß ich sie nicht anfaßte. Dabei hätte ich sie so gern in den Arm nehmen wollen, um sie nach Hause zu bringen. Aber das konnte ich nicht.«
»Dann war sie verändert, nicht wahr?«
Sonja überlegte, was sie mir antworten sollte. Sie gab sich wirklich Mühe, denn es war zu sehen, wie sie ihre Gedanken sammelte. »Sie sah aus wie immer - eigentlich…«
»Ist dir trotzdem etwas aufgefallen?«
»Ja…«
»Was?«
»Manchmal sah sie komisch aus. Das Gesicht und so. Die Haut. Das stimmte nicht so recht.«
»Genauer kannst du das nicht
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