108 - Der schwarze Würger
sie nie wieder zu Gesicht. Ich bin enttäuscht, und deshalb übe ich diesen Verrat an ihr und weihe dich in mein Geheimnis ein."
Er streckte sich und gähnte. „Bin ich müde!"
Er legte sich hin und war sogleich eingeschlafen.
Die Flocken tanzten in die Höhle und überzogen den Boden und die rissigen Wände mit einer weißen Schicht. Ich hielt mich in Bewegung. Auf und ab schritt ich, hin und her. Ich hielt mich munter, indem ich meine Fußspuren, zählte, die sich deutlich im dichten Schnee abzeichneten. Doch ich wurde immer müder. Die Kälte biß sich durch meinen Umhang. Die Eisenmaske war bereits so kalt, daß sie auf meinem Mujina-Nicht-Gesicht zu kleben schien.
„Kokuo!" schrie ich aus Leibeskräften. „Warum meldest du dich nicht in diesem Augenblick? Ein Kampf mit dir würde mich vor dem Erfrierungstod retten."
Aber der Kokuo rührte sich nicht.
Ich hockte mich in einen Winkel und verhüllte meinen Körper mit dem Umhang, darum bemüht, nur keinen Spalt entstehen zu lassen, durch den die Kälte dringen konnte. Im Nu war ich von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Ich rührte mich nicht. Einmal schreckte ich hoch und merkte, daß mir der Kopf vor Müdigkeit auf die Brust gesunken war. Ich war eingeschlafen. Was hatte mich geweckt?
Ich hörte Biwaklänge!
Langsam hob ich den Kopf. In der Höhle war es unnatürlich hell. Ein unwirklicher Schein ließ das Gewölbe erstrahlen.
Ich hatte schon viel vom Yuki-akari gehört, vom Schneeschein, der die Yuki-Onna begleitete, und wußte sofort, die Höhle wurde vom Yuki-akari erhellt. Aber wer spielte die Biwa so wie Genji? Genji war tot.
Nachdem sich meine Maskenaugen an die blendende Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich, daß die vier Saiten der Biwa vom Wind und den Schneewolken bewegt wurden. Es war, als spielte Genji selbst sein Instrument.
Ich wagte mich nicht zu rühren, als die Schneeflocken durcheinandergewirbelt wurden und sich zu einer Gestalt verdichteten.
Eine Frau in Weiß erstand vor meinen Maskenaugen.
Auch über Genji, Kito, Kaoru und den drei anderen verdichteten sich die Schneeflocken; sie nahmen deren Gestalt an.
Die Schneefrau hatte ihnen das Leben genommen und sie zu Eiskriegern gemacht. Sie hatten Gesichter aus blankem Eis, und der Schneeschein ging von ihnen aus.
Dann sah ich im Eingang der Höhle eine Bewegung. Der Schneeschein blendete mich für einen Augenblick, gleich darauf sah ich weitere Eiskrieger in die Höhle treten. Sie hatten einen eisigen Atem, der in knisternden Wolken davontrieb; und sie kamen auf mich zu. Genji, Kito und Kaoru schlossen sich ihnen an. Sie umstanden mich lauernd.
Ich wollte etwas sagen, nach meinem Tomokirimaru greifen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Die Eisgestalten blickten starr auf mich hinunter, der ich steifgefroren war und zu keiner Gegenwehr mehr fähig. Dann wichen sie zurück. Die Klingen ihrer Schwerter aus Eis teilten die in der Luft tanzenden Schneekristalle. Ich hörte das Geräusch. Mein Verstand arbeitete überaus scharf, meine Sinne waren ebenso wach.
Genji zupfte seine Biwa, Kito ließ seine vereisten Muskeln knacken.
Durch die entstandene Gasse kam die Schneefrau auf mich zugeschritten. Ihre zierlichen Füße berührten den Boden kaum. Sie schwebte.
Wie schön sie war! Schöner als alle anderen Frauen. Fast so schön wie Tomoe gewesen war.
Sie beugte sich an mir hinunter, bis ihr Gesicht ganz nahe meiner Maske war. Ich konnte mich nicht abwenden, obwohl mich ihre Kälte frösteln ließ. Aber ihre Nähe schenkte mir gleichzeitig Wonneschauer. Ihre Kälte war tödlich, aber zugleich süß und berauschend.
Ihre Schneehände fuhren wie liebkosend über meine Maske, und diese Berührung spürte ich tief in meinem Inneren.
„Tomotada", hauchte ihre Stimme, die so fremd und einschmeichelnd, so leise und doch verständlich klang; es war, als würde sie durch die Reibung der Schneeflocken entstehen.
„Tomotada, ich könnte auch mit dir so verfahren wie mit den anderen. Aber das würde dir nicht gerecht werden."
Wieder kosten ihre Schneehände meine Eisenmaske. Im Hintergrund ertönte das melancholische Biwaspiel. Dazu knisterte der Schnee.
„Ich spüre, daß du etwas Besonderes bist, Tomotada. Man sagt mir nach, ich sei kalt und gefühllos. Doch das stimmt nicht. Wer mich kennt, der weiß, daß ich am Pulsschlag der Lebenden teilhaben kann. Ich tue es oft, wann immer sich mir Gelegenheit dazu bietet. Denn ich bin einsam. Deshalb suche ich die Nähe der Sterblichen. Doch
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