1088 - Killer in der Nacht
lauter, so daß sie aufmerksam wurde. Estelle zog die Beine vom Tisch und verlor ihre entspannte Haltung. Auf einmal schienen kalte Spinnenbeine ihren Rücken hinabzukriechen. Der Magen krampfte sich zusammen, denn jetzt wußte sie, daß sie das Geräusch nicht ausgestoßen hatte.
War jemand im Zimmer?
Noch im Sitzen drehte sie sich um, weil sie Ausschau halten wollte. Nein, es hielt sich niemand im Raum auf. An der Tür sah sie ebenfalls keine Bewegung, und auch durch den schmalen Flur bewegte sich niemand.
Sie stand auf.
Der Atem war jetzt ein Zischen. Er huschte dicht an ihrem Ohr vorbei, und diesmal konnte sie den Schrei nicht unterdrücken, so sehr hatte sie sich erschreckt.
Es war keiner zu sehen. Auch dann nicht, als sie sich mehrmals auf der Stelle drehte.
Einbildung? Stand sie schon vor dem Durchdrehen? Erlebte sie akustische Halluzinationen? War sie schon so gestreßt, daß sie sich irgendwelche Feinde einbildete, die es nicht gab?
Die Fragen überschwemmten sie, ohne daß es ihr möglich war, eine Antwort zu finden.
Das Zimmer war leer. Die Wohnung war leer. Es war ihr niemand gefolgt. Sicherheitshalber warf sie einen Blick in das Schlafzimmer. Auch dort hielt sich keiner auf. Das Doppelbett war unberührt.
Faltenlos lag die Decke auf der Liegestatt.
Die Gänsehaut blieb auf ihrem Rücken, und sie löschte auch nicht das Licht im Schlafzimmer. Mit raschen Schritten lief Estelle auf die Wohnungstür zu. Zwar war sie stabil gebaut, aber sie dämpfte nicht alle Geräusche. So hörte sie die Stimmen auf dem Flur und glaubte sogar, die des Geisterjägers zu vernehmen.
Das Atmen war wieder da.
Dicht hinter ihr.
Ein schlürfendes Geräusch. Ein Ächzen. Langgezogen und unheimlich anzuhören.
Estelle Crighton hatte das Gefühl, auf der Stelle einzufrieren. Ihr Nacken spannte sich. Sie wollte herumfahren, doch sie besaß nicht die Kraft.
Das Atmen blieb. Es veränderte sich nur. Diesmal pfiff der Atem an ihrem rechten Ohr vorbei, und sie merkte, wie sich das Zittern in ihren Knien ausbreitete. Der Schweiß bildete dicke Tropfen auf der Stirn und vor allem auf der Oberlippe. Das Herz schlug wieder schneller. Sie fühlte sich in der Falle, und als sie sich dann trotzdem heftig umdrehte, war niemand zu sehen.
Allein stand sie an der Tür und starrte in den Flur hinein. Sie sah den Spiegel an der Wand und konnte sich darin als Abbild erkennen. Klar und deutlich. Das war einmal anders gewesen, als der Schutzengel noch in ihrer Nähe gewesen war. Da hatte ihr Gesicht ausgesehen, als wäre es innerhalb des Spiegels verschwommen, um von ihm aufgesaugt zu werden.
Das schwere Atmen hatte sie nicht vergessen. Estelle bemühte sich, es positiv zu sehen. Es konnte ja sein, daß sich ihr Schutzengel trotz allem noch in ihrer Nähe aufhielt und sich durch sein Atmen bemerkbar machte. Wenn ja, warum tat er das? Sie kam damit nicht zurecht. Welchen Grund sollte er dafür haben?
Nein, das stimmte nicht. Sie dachte falsch. Das mußte etwas anderes gewesen sein. Mit kleinen Schritten ging sie wieder zurück ins Wohnzimmer und blieb nahe der Tür stehen. Der erste Blick glitt suchend durch das Zimmer, ohne daß sie etwas fand, das ihr hätte gefährlich werden können.
Nichts hatte sich verändert.
Sie strich durch ihr Haar und nahm sich vor, es locker zu sehen. Es war niemand im Raum, und an den Schutzengel wollte sie ebenfalls nicht denken. Außerdem hatte er ihr erklärt, daß er sich zurückziehen würde und nicht mehr direkt eingreifen konnte. Sie mußte sich jetzt schon auf sich selbst verlassen.
Dabei wußte sie nicht, ob sich die Glückssträhne noch weiter halten würde. Estelle hatte Glück gehabt. Sie war von Krankheiten verschont geblieben. Es hatte nie Ärger in der Schule gegeben, und später war auch ihre Karriere als Mannequin glatt und sicher verlaufen. Da gab es überhaupt keine Probleme.
Seit kurzer Zeit war es anders. Sie schüttelte sich, als sie daran dachte. Über ihren Nacken rann es kühl, und sie wartete wieder auf den Atemzug.
Er kehrte nicht wieder.
Alles blieb wie immer. Allmählich entspannte sich die junge Frau und konnte sogar wieder lachen.
Sie schleuderte mit einer heftigen Kopfbewegung ihr Haar zurück, bevor sie wieder zu einem der beiden Sessel ging und sich dort niederließ.
Sie wollte sich ablenken und griff zur TV-Fernbedienung, die auf dem Tisch lag.
Dazu kam es nicht.
Es klingelte.
Mit einem Sprung war sie auf den Beinen, und jetzt huschte ein Lächeln über ihre
Weitere Kostenlose Bücher