1097 - Der Tod aus dem Tunnel
stoischer und deprimierter. Zudem waren sie eingepackt in dicke Winterkleidung. Beinahe jeder trug eine Fellmütze.
Wir hatten unsere Ausrüstungsgegenstände zwischen uns auf die Bank gestellt. Es war klar, daß sich unsere Gedanken um den alten Stollen drehten. Was würde uns dort erwarten? Tatsächlich unzählige Insekten, die in diesem feuchten Klima mutiert waren?
Es war gut möglich, aber etwas mußte dahinterstecken, und ich ließ mir die Worte des alten Mannes immer wieder durch den Kopf gehen. In dem Stollen gab es etwas, über das man sprach, von dem man aber nicht wußte, um was es sich handelte. Um etwas Böses, Gefährliches, das auch mit den Mücken zusammenhing. Alte Legenden und Geschichten enthalten oft mehr als einen Kern von Wahrheit, das hatte ich schon oft genug erlebt.
Auch Karina war nachdenklich geworden. Sie hatte den Kopf nach links gedreht und schaute durch die Scheibe nach draußen in die Dunkelheit hinein. Auf dem Glas malte sich ihr Gesicht ab. Obwohl die Umrisse verschwommen waren, sah ich so etwas wie eine scharfe Anspannung auf ihren Zügen.
Auch ihre Gedanken hatten sich um den alten Mann gedreht, denn sie sagte plötzlich: »Er hat recht gehabt, John. Ich bin davon überzeugt, daß er nicht gelogen hat.«
»Wir werden es sehen.«
»Und was könnte dort lauern?« Ich zuckte die Achseln. »Hast du dir wirklich keine Gedanken darüber gemacht?«
»Doch - schon.«
»Aber…«
»Ich lasse mich überraschen, Karina.«
»Das glaube ich dir nicht. Du denkst schon darüber nach, was uns dort erwarten könnte. Tue ich ja auch. Ich denke immer an die verdammten Mücken. Ich denke an die fünf Menschen in der Klinik. Ich sehe sie immer vor mir. Ihre Gesichter sahen schrecklich aus, und auch sie als Personen waren verändert. Sie wollten Blut, John. Richtiges Blut. Das deutet doch nur auf etwas Bestimmtes hin.«
»Vampire.«
»Ja.«
»Wobei wir wieder bei den Vampir-Mücken wären. Wir drehen uns im Kreis. Das Diskutieren hat keinen Sinn. Wenn wir da sind, werden wir es sehen können.«
Es wurde heller. Dann fuhren wir in die nächste Station ein. Der Zug hielt, und Karina warf einen Blick durch die offene Tür hinaus auf den Bahnsteig.
»Gibt’s was besonderes?« fragte ich.
»Nein. Wir müssen nur beim nächsten Halt raus. Von dort geht es dann zu Fuß weiter. Du hast die Pläne?«
Ich klopfte gegen meine Brust.
»Laß uns noch mal schauen.« Sie hielt bereits einen Kugelschreiber in der Hand und wartete, daß ich die Kopien entfaltete. Sie fanden auf unseren Knien Platz.
Einige Fahrgäste beobachteten uns. Kommentare erlebten wir nicht.
Karina fuhr mit dem Kuli über die Kopie hinweg und malte an der entsprechenden Station ein Kreuz. »Da müssen wir raus.«
»Wie geht es dann weiter?«
»In den Tunnel hinein.«
Ich schaute zu, wie sie die Strecke aufzeichnete. Sehr weit mußten wir nicht hineingehen. Nur ein kleines Stück. Da gab es dann eine Tür, die zu irgendeinem Kontrollraum oder zu einem Lager führte. Von dort ging es noch weiter. Aber der Weg war nur gestrichelt gezeichnet, ein Beweis, daß er offiziell nicht existierte.
»Du hast nicht daran gedacht, noch einen Experten mitzunehmen?« fragte ich sie.
»Nein, das wollte ich nicht. Ich möchte keine Menschen in Gefahr bringen. Aber ich habe mit den Verantwortlichen gesprochen und auch die entsprechenden Schlüssel für bestimmte Türen bekommen, die wir öffnen müssen.«
»Man hat also doch getrennt.«
»Sicher, John, was dachtest du denn.«
Der Zug war wieder im Tunnel verschwunden. Neben uns stand ein junger Mann, der sich krampfhaft festhielt, weil er total betrunken war.
Trotzdem schleuderte er hin und her, bis er sich schließlich auf den Boden setzte und zu lachen begann.
»Auch das ist einer von denen, die keine Perspektive sehen«, sagte Karina. »Er lebt bestimmt auf der Straße. Irgendwann wird er noch tiefer abrutschen, wie es bei vielen seiner Altersgenossen ist. Das ist einfach schrecklich.«
Sie hatte recht. Gestalten wie diesen jungen Mann hatte ich schon auf den Bahnsteigen gesehen, wo sie auf dem Boden hockten und vor sich hin dämmerten.
Um den Betrunkenen kümmerte sich niemand, der aber aufstand, als wir stoppten.
Auch wir hatten uns erhoben. Ich trug die Tasche mit den Ausrüstungsgegenständen. Im Strom der Fahrgäste schoben wir uns auf den Bahnsteig. Es war hier kalt und zugig. Von irgendwoher blies der scharfe Wind und fegte manchmal Abfall vor sich her. Die schöne
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