112 - Der tägliche Wahnsinn
noch jemand? Hallo?», hörte ich ihn immer wieder rufen, bis ich mit dem Helm gegen seinen Hintern stieß. Dieter hatte eine Tür ertastet und vor ihr haltgemacht. Dann richtete er sich auf, sodass ich nur noch seine Stiefel erkennen konnte. Jetzt wird er die Tür auf Wärme abtasten, um auszuschließen, dass uns bei ihrem Öffnen eine böse Überraschung in Form einer Stichflamme erwartet, dachte ich. Anscheinend war das Türblatt aber nicht durch Brandeinwirkung aufgeheizt, denn ich hörte, wie mein Kollege einen Moment später seine Masse gegen die Tür warf. Holz splitterte, irgendetwas fiel polternd um. Dann konnte ich nur noch den Lichtstrahl seines Handscheinwerfers im Dunkeln fahl durch den Rauch tanzen sehen. Ihn selbst vermochte ich nicht mehr auszumachen: Er musste etwa einen Meter vor mir sein – zu weit weg, um ihn durch den dichten Qualm zu erkennen.
Ich wartete darauf, dass er weiterging, damit ich die Angriffsleitung nachziehen konnte. Doch dies war nicht möglich. Dieter tastete rundherum nur Wände. «Mist! Wo geht das denn hier weiter? Verdammt!», fluchte er.
Die Besenkammer im Hausflur kostete uns wertvolle Zeit. Wenigstens befand sich ein Fenster in diesem vielleicht zwei Quadratmeter kleinen Raum. Sofort öffnete er es, um für etwas Belüftung zu sorgen, bevor er sich wieder heraustastete. Irgendwo musste doch diese verflixte Wohnung sein. «Hallo! Ist hier noch jemand?»
Von draußen drangen die typischen Geräusche einer Einsatzstelle durch das Besenkammerfenster: der dröhnende Motor des Löschfahrzeugs, der die Pumpe betreibt, der ratternde Generator, der den Lichtmast am Fahrzeug mit Strom versorgt, das Klingeln der Schlauchkupplungen, wenn eine Leitung verlegt wird, und in den Straßenschluchten das sich nähernde Einsatzhorn weiterer Fahrzeuge. Unsere Verstärkung ist gleich da, dachte ich, und dann unterstützen uns weitere Atemschutztrupps.
«Hier!», erscholl es plötzlich aus dem zweiten Stock. «Hier oben!»
Ein dünnes Frauenstimmchen wies uns den Weg. Es war also nicht nur ein Mann in der Brandwohnung gefangen, sondern in der Etage darüber noch einer Frau der Rückweg versperrt.
«Sie muss in ihrer Wohnung sein», bemerkte Dieter. «Die Stimme klang nicht so, als würde die Frau im Treppenhaus stehen.»
Ein Teil des Rauchs zog mittlerweile aus dem Fenster der Besenkammer ab, sodass wir etwas mehr sehen konnten. Zügig konnten wir deshalb die Treppe zur Wohnung hinaufsteigen, in der sich die Hilferufende befand. Dieter warf sich erneut mit Schwung gegen die Tür – sie ächzte kurz, und er fiel der Länge nach in den Flur. Mit seiner Masse hätte er durch die Tür hindurchlaufen können, denn sie war genauso altersschwach wie die Dame, vor deren Füßen sich mein Kollege jetzt in voller Ausrüstung kugelte. Das weißhaarige, zierliche Mütterchen sah uns in ihrem Nachthemd erschrocken an. Mit diesem martialischen Auftritt zweier ihr fremder Männer hatte sie wohl nicht gerechnet. Vielleicht hatte sie ein dezentes Klopfen erwartet. Die Vorstellungsrunde musste aber erst einmal ausfallen, da der Rauch aus dem Hausflur nun in die bis dahin rauchfreie Wohnung drang.
Dieter stülpte der Mieterin flott die mitgebrachte Fluchthaube über, und weil sie nicht gerade aussah wie eine energiegeladene Sportlerin, nahm er die geschätzten fünfzig Kilo kurzerhand unter den Arm. Wir hasteten die Treppe hinunter, über Funk gab ich Rückmeldung: «Eine Person gefunden, Rettungsdienst zum Eingang!» Unten wurde uns die Frau von den Kollegen des Rettungsdienstes abgenommen. Sie würden sich weiter um sie kümmern.
Bevor wir wieder zurück ins rauchverhangene Haus gingen, konnte ich noch ausmachen, dass die Drehleiter aufgebaut wurde und sich der zweite Angriffstrupp auf seinen Einsatz vorbereitete. Wir hatten bislang weder das Feuer noch den in der brennenden Wohnung vermuteten Mann gefunden.
Im ersten Stock sammelten wir die zurückgelassene Schlauchleitung auf und fanden eine Tür, hinter der es hörbar knisterte. Die braune Farbe warf von der Hitze schon Blasen. Hier musste es sein. Nachdem wir die Tür aufgebrochen hatten, kam uns ein Hitzeschwall entgegen. Dieter gab über Funk unsere Position durch – «Brandwohnung gefunden, gehen weiter vor» –, während ich mehr Schlauchleitung vor die Wohnungstür zog. Tief geduckt betraten wir im Entengang einen Flur, von dem aus drei Zimmertüren abgingen. Wieder war kaum die Hand vor unseren Augen zu erkennen, wieder ging es fast nur
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