112 - Der tägliche Wahnsinn
eines der Messgeräte defekt, und so munter, wie die Patientin war, offensichtlich nicht unseres. Sicherheitshalber piksten wir die ältere Dame aber noch ein drittes Mal. Auch bei diesem Mal war alles in Ordnung, eine Unterzuckerung konnten wir nicht registrieren. Manfred zog die Augenbrauen hoch, der Pfleger wurde sehr verlegen. «Woher soll ich wissen, dass das Gerät nicht genau funktioniert?», sagte er. «Die Glukometer werden sonst immer geprüft, bevor die Einsätze beginnen, das ist mir noch nie passiert.»
Ich beruhigte ihn: «Natürlich. In so einem Ding steckt man nicht drin. Das braucht nur einmal runterzufallen, und schon hat es womöglich Störungen. Mach dir da mal keinen Kopf. Du tauschst das Gerät gleich aus, und gut ist es.»
Während der Pfleger sich noch entschuldigte, setzte sich Frau Hermann im Bett auf, jetzt voller Hoffnungen: «Ich muss also nicht mit ins Krankenhaus?»
«Nein, das müssen Sie nicht. Sie können zu Hause bleiben», bestätigte ich.
«Wissen Sie, ich bin erst vor zwei Tagen aus der Klinik entlassen worden. Da möchte man nicht schon wieder hinein … Und ich muss wirklich nicht mit?»
Da die Dame nach unserer Beobachtung leicht dement war, vermuteten wir mittlerweile, dass sie gar nicht gestürzt war, sondern dass ihr die Erkrankung einen Streich gespielt hatte.
«Nein. Sie können in Ihrem Bett bleiben», wiederholte ich. «Da Sie sich bei dem Sturz nichts getan haben, ist alles in Ordnung mit Ihnen. Am besten, Sie schlafen sich ordentlich aus.»
Plötzlich richtete sie sich zu ihrer vollen Körpergröße auf – sie war nicht sehr groß –, fiel mir um den Hals und zog mich weinend in ihre Federn, was ihr aber nicht vollständig gelang. «Sie sind ja sooo nett. Dass ich bleiben darf! Das ist so schön.» Sie schluchzte vor Erleichterung. «Und Ihr Kollege ist auch sehr lieb. Wunderbare Menschen sind Sie beide. Ganz wunderbar.»
Als ich mich aus ihrer Umklammerung lösen konnte, war mein Kuschelbedarf für diese Nacht gedeckt. Manni packte kichernd den Koffer zusammen und wir verabschiedeten uns, bevor wir ihre Wohnung wieder verließen.
Eine halbe Stunde nachdem wir auf der Wache eingetroffen waren, klingelte es erneut. «Unklare Faxmeldung» stand auf dem Alarmschreiben. Das hieß: In der Leitstelle war ein Notfallfax aufgelaufen, das im Internet für Sprach- oder Hörbehinderte zum Downloaden angeboten wird. Einen solchen Vordruck kann sich ein Sprachbehinderter ausdrucken und in diesem im Vorwege seine Adresse eintragen. Im Notfall braucht der Hilfesuchende nur noch anzukreuzen, ob er den Rettungsdienst, die Feuerwehr oder die Polizei benötigt, einen kurzen Satz zum Notfall einzutragen und an die Notrufnummer 112 zu schicken. Der Leitstellendisponent unterschreibt das Fax und schickt es zur Quittierung zurück zum Absender. Leider stand auf «unserem» Fax nichts Näheres zum Notfall. Lediglich war «Krankenwagen schnell kommen» in die entsprechende Zeile gekritzelt worden. Das konnte alles und nichts bedeuten, von drei Tage alten Bauchschmerzen bis hin zu einer schweren Verletzung. Also fuhren wir wieder mit Alarm durch die Nacht.
Am Einsatzort empfing uns vor einem modernen Zweifamilienhaus ein junger Mann, der uns mit einem Winken, begleitet von seltsamen Lauten, zu verstehen gab, dass wir ihm folgen sollten. Er führte uns in eine betreute Wohngemeinschaft mit vier Bewohnern, alle zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Drei waren taub, und die vierte Person in der Runde – ausgerechnet die Betreuerin – lag mit einer starken Erkältung auf einem Sofa. Und wegen ihr waren wir gerufen worden.
Die Frau erzählte uns krächzend, dass sie seit zwei Tagen Schnupfen, starken Husten und die aus einer grippalen Infektion resultierenden allgemeinen körperlichen Beschwerden wie Gliederschmerzen und das globale Ich-kann-nicht-mehr-Gefühl habe.
«Aber warum sollten wir kommen? Was ist nun so schlimm, dass Sie einen Rettungswagen brauchen?», fragte Manfred die Betreuerin.
Sie bekam kaum ein Wort heraus. «Ich habe Kopfschmerzen», wisperte sie. «Und die Ohren tun mir weh. Auch die Lunge brennt. Außerdem habe ich Fieber.»
Durch den starken Husten schmerzten ihr die Bronchien und durch den Schnupfen waren wohl die Nebenhöhlen verstopft, sodass ihr zusätzlich noch das halbe Gesicht weh tat.
Der junge Mann, der uns in die Wohnung geführt hatte, gab uns jetzt mit Händen und Füßen kund, dass er sehr besorgt sei, und weil er nicht mehr weitergewusst
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