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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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hätte, habe er das Notfallfax abgeschickt. Manni setzte sich etwas desillusioniert auf den Notfallkoffer, als er hörte, warum wir nachts um halb drei gerufen worden waren.
    «Waren Sie denn damit mal beim Arzt?», fragte er die Frau.
    «Ja, gestern Nachmittag. Er hat mir etwas gegen das Fieber und die Kopfschmerzen gegeben.»
    «Und?»
    «Die Tabletten habe ich gleich genommen. Erst ist es ein wenig besser geworden, aber jetzt ist es wieder ganz schlimm», jammerte sie.
    Natürlich, nach etwa zwölf Stunden war zu erwarten, dass die Wirkung der Pillen nachließ.
    «Aha.» Manfred betrachtete das Häufchen Elend vor sich.
    Eigentlich sollte man in einem solchen Fall die verordneten Medikamente durchgängig nehmen und den Kopf über dampfendes Wasser in einer Schüssel mit irgendeinem Mentholzeug halten, um die Verstopfung in den Nebenhöhlen zu lösen. Tja, und dann muss man das durchstehen. Man sagt, dass so etwas ohne Arzt sieben Tage dauert, mit Arzt eine Woche. Diese Patientin hatte allerdings nur einmalig die Tabletten genommen, und als die Wirkung nachließ, lamentierte sie so lange herum, bis die tauben Mitbewohner, die nun eine Gelegenheit sahen, sich für die Betreuung zu revanchieren, das Fax verschickten, um die Erkältete abholen zu lassen. Und jetzt waren wir als Rettungsdienst mit im Boot.
    Wir überlegten, was wir aus der Situation machen sollten. In diesem Zustand war die Kranke keine Hilfe für die Mitbewohner, so viel stand für uns fest. Aber es kam auch nicht in Frage, sie mit dem Rettungswagen in eine Klinik zu bringen, da ihr «Notfall» im Grunde keiner war. Eigentlich hätten wir die Frau an den hausärztlichen Notdienst verweisen müssen.
    «Hier kann sie aber nicht bleiben», meinte Manfred schließlich zu mir.
    «Die macht die Mitbewohner nur kirre und steckt womöglich alle an», stimmte ich zu.
    Am Ende entschieden wir uns doch dafür, sie ins Hospital zu transportieren. Dort konnte man ihr eine ordentliche Dröhnung verschreibungspflichtiger Substanzen verabreichen, um ihr erst einmal über die Nacht zu helfen. Wahrscheinlich würden die Ärzte sie später wieder nach Hause schicken, aber das war dann nicht mehr unsere Entscheidung. Während wir uns also dazu durchrangen, die Betreuerin ins Krankenhaus zu fahren, wechselten wir uns mit Seufzen ab. Auch eine Art Arbeitsteilung.
    Wir führten die Patientin zum RTW und nahmen noch einen der gehörlosen Mitbewohner mit, der uns bedeutet hatte, dass er unbedingt mitkommen müsse, damit die Betreuerin keine Angst hätte. So hatte die Betreuerin einen Betreuer. Auf diese Weise brachten wir die Patientin mit einem grippalen Infekt (nicht zu verwechseln mit einer echten Grippe) in die nächste Klinik. Unterwegs «gestand» mir der Begleiter mit wilden Gesten, dass er es toll fände, mit Blaulicht über rote Ampeln zu fahren und ob wir es nicht einschalten könnten. Danach betonte er nochmals ausladend mit den Armen – ich hatte direkt Angst um den Rückspiegel –, dass die Erkältete ohne seine Fürsorge kaum ruhig schlafen könne. Außerdem einiges anderes, was ich aber nur lückenhaft mitbekam, denn ich musste mich entscheiden – den «Erzähler» ansehen oder den Blick auf die Straße lenken –, und ich hatte mich für unversehrtes Ankommen entschieden.
    Manfred wurde erst von einer Schwester und danach von der Ärztin mit ungebügelter Stirn angeschaut, als wir mit der Patientin die Notaufnahme betraten und das Einsatzprotokoll übergaben. «Wegen einer Erkältung?», fragte die Medizinerin ungläubig. Manfred erklärte ihr die Situation in der WG und dass die anderen Bewohner vor Sorge kein Auge zumachen würden, wüssten sie ihre Betreuerin nicht ärztlich versorgt. «Ja, gut», meinte sie und seufzte, wie auch wir schon zuvor. «Dann werde ich sie mal aufnehmen. Wegen einer Erkältung.»
    Das war der zweite Einsatz in einer Schicht, der nicht notwendig gewesen war. Mittlerweile war es halb vier.
    Anschließend wiegte die Leitstelle uns in der trügerischen Sicherheit, doch noch etwas Schlaf zu bekommen. Aber gegen vier Uhr wurden wir erneut aus unserem Konzentrationszustand gerissen. Dieses Mal schickte man uns mit dem Stichwort «bewusstlose Person» los.
    In der verschachtelten Wohnsiedlung mussten wir ein wenig suchen, bis wir die angegebene Adresse entdeckt hatten. Mehrere junge Leute liefen auf der Straße oder sprangen in der Grünanlage zwischen den Häusern herum. Wir nahmen an, dass die Gruppe jemanden gefunden hatte,

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