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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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Atemnot. Und wenn die Ursache in der Psyche liegt, bringen Asthmamedikamente natürlich nur kurzfristig Besserung. Da den Menschen, die so tief in Depressionen stecken, der Blick auf offensichtliche Lösungsansätze verstellt ist, muss ihnen jemand sagen, wo sie Hilfe bekommen können. Also schreibt man den Betroffenen als «Serviceleistung» je nach Bedarf die Telefonnummer einer Trauerselbsthilfegruppe auf, der Seelsorge oder der Drogenberatung für Angehörige, damit sie vielleicht in einem lichten Moment den Zettel auf dem Tisch finden und sich einen Ruck geben, um dort anzurufen. Wenn ich selbst nicht helfen kann, versuche ich wenigstens jemanden zu nennen, der das übernehmen könnte.
    Auch suchen viele Anrufer in der Notrufzentrale einfach nur einen Rat, wollen wissen, wie ein Notdienst zu erreichen ist: ein Hausarzt, ein Zahnarzt, die nächste Bereitschaftsapotheke. Die Feuerwehr wird von vielen in der Bevölkerung als Mädchen für alles angesehen, als Telefonauskunft, Taxizentrale, Tiefbauamt (wenn es um das Aufstellen von umgeworfenen Baustellenabsperrungen geht) oder Grünflächenamt (wenn ein Baum auf eine Wiese gekippt ist). Die Disponenten halten für derlei Situationen eine lange Liste mit Telefonnummern bereit. Manchmal rufen sogar Leute an, die nur die Uhrzeit wissen wollen! Das ist nicht unbedingt der Sinn einer millionenteuren Leitstelle. Leider werden dadurch die 112 -Leitungen für wirklich Hilfesuchende blockiert, die sich nicht über den qualmenden Grill des Nachbarn beschweren oder uns als «rollende Apotheke» missbrauchen wollen («Aber mein Asthmaspray ist leer, und die Apotheken haben doch schon zu»).
    Praktische Lebenshilfe der ganz besonderen Art mussten wir einmal im Keller einer Eisdiele leisten. Dieter war am späten Nachmittag dabei, auf unserer Rettungswache die Transportbelege gerade abgeschlossener Einsätze ins Abrechnungssystem einzutippen, während ich den Linoleumboden unseres Aufenthaltsraums fegte.
    «Heb mal die Füße hoch», forderte ich ihn auf. «Da ist alles voll Krümel von deinem Brötchen.»
    Dieter, der dem Dialekt nach einer waschechten Bergmannsfamilie entstammte, war etwas genervt. Er mochte keine Sitz- und Büroarbeit, deshalb antwortete er: «Mann, lass mich in Ruhe. Kannze nich später hier rumfegen? Du ziehst mit ’nen Besen bloß wieder die Computersteckers da unten raus!» Trotzdem rollte er mit dem Bürostuhl etwas zurück und hob die Füße an, wenn auch widerwillig. Aber zum Fegen kam ich nicht mehr, denn in diesem Moment klingelten die Alarmmelder. Auf dem Display stand kryptisch: « RET . HP in Eisdiele.» Keine nähere Bezeichnung des Notfalls. Das passiert, wenn in der Zentrale gerade «die Luft brennt» und die Disponenten sich bei weniger dringend erscheinenden Notrufen nicht so lange mit der Ausformulierung von Einsatzmeldungen aufhalten wollen – oder der Einsatz ist irgendetwas «Krummes», also eine Sache, auf die kaum eine der üblichen Meldungen passt. Dieter schimpfte weiter: «Mann, immer, wenn ich mitten inne Papiere bin!» Es half nichts, wir mussten los.
    Nachdem ich die blauen Reklamelampen auf dem Rettungsbomber eingeschaltet hatte, ärgerte sich Dieter während der Fahrt weiterhin darüber, dass er die bisherigen Transportscheine dieser Schicht noch nicht alle in den PC eingegeben hatte, dass jetzt wieder ein neuer Transportschein hinzukommen würde, über den «Blödsinn mit der EDV » an sich und dass der ganze Papierkram immer doppelt und dreifach ausgeführt werden müsste. «Früher haben wir die Dinger einfach in die Dienstpost geschmissen und gut. Den Rest hamse inne Abrechnung selbst fabriziert, dafür sind die doch schließlich da! Und heute … bin ich Retter oder Büro-Fuzzi? Ich will ’ne Sekretärin.» Ich ließ ihn schimpfen und schlängelte unser Fahrzeug durch den Verkehr.
    Die angegebene Adresse war ein Eiscafé in einer Fußgängerzone. Da die Zufahrt mit Sperrpfosten versehen war und es auf dem Weg zum Café durch einbetonierte Blumenkübel sehr eng wurde, entschlossen wir uns, die letzten fünfzig Meter zu Fuß zurückzulegen.
    «Bleib mitte Karre mal draußen, da isses so eng, da fährsse bloß alles krumm», meinte Dieter.
    Wir stiegen aus und entnahmen dem Rettungswagen den Notfallkoffer und den Beatmungsrucksack. Auf dem Weg ins Café kam uns ein Passant grinsend entgegen: «Ich glaube, euren Koffer braucht ihr da nicht.»
    Na, jetzt waren wir aber gespannt, warum der Herr so amüsiert war!
    In der

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