112 - Der tägliche Wahnsinn
gebogenen Nadel durch den Glastürschlitz um die Ecke zu schießen. Die Öffnung des im Schaufenster befindlichen Windlichts hatte etwa einen Durchmesser von zehn Zentimetern, der Abstand betrug zwei Meter. Jetzt musste Kevin nur noch treffen. Das war nicht einfach, die Prozedur wurde mehrmals wiederholt. Die Schaulustigen feuerten den Kollegen begeistert an:
«Das war zu weit!»
«Etwas weniger Druck!»
«Und weiter links!»
Nach jedem fehlgeschlagenen Versuch ging ein teils belustigtes, teils enttäuschtes Raunen durch die Zuschauer. Mir war das peinlich. Die Szene erinnerte mich an eine populäre Fernsehsendung aus gehaltvolleren TV -Zeiten: Bei
Dalli Dalli
mussten die Kandidaten lustige Aufgaben lösen, und diese Nummer hätte eins zu eins aus dieser Show stammen können. Alle schauten gebannt zu, wie Kevins Wasserstrahl hinter der Scheibe mal vor, mal hinter dem Windlicht herunterkam. Und neben ihren guten Ratschlägen, die jeder parat hatte, schlossen die Leute auch schon Wetten ab, ob Kevin es fertigbrachte, die Flamme zu treffen. Es herrschte Volksfeststimmung. Fehlte nur noch eine Würstchenbude.
Mittlerweile traf Polizei ein, wahrscheinlich vom Chef gerufen, um unter der Aufsicht der Beamten die Tür mit dem Trennschleifer aufzuschneiden. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fiel einer jungen Frau in Fellstiefelchen und einem für die Jahreszeit viel zu dünnen Jäckchen ein: «Meine Freundin ist hier Verkäuferin. Die wird auch einen Schlüssel haben. Soll ich die mal anrufen?» Ich hätte ihr auf der Stelle das Kunstfell über die Ohren ziehen können, denn die Person hatte uns mindestens schon dreißig Minuten beobachtet. Wir machten uns hier «zum Horst», um in den Laden zu gelangen, und sie wusste die ganze Zeit, wo wir einen Schlüssel herbekommen konnten.
«Ja sicher, Mann, äh, Frau, rufen Sie dort an. Aber das hätten Sie uns auch gleich sagen können.» Die letzte Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.
Das blitzgescheite Fräulein kramte ihr Handy hervor und gab auf der Tastatur die Nummer ihrer Freundin ein. Und anstatt kurz zu sagen: «Hallo! Die Feuerwehr möchte eine Kerze in eurem Schaufenster löschen. Kannst du mit dem Schlüssel vorbeikommen?», tat sie das, was ich fast erwartet hatte: Sie kaute erst einmal den Schichtplan des Geschäfts mit ihr durch, um herauszufinden, wer wohl den Tinnef-Shop als Letzter verlassen hatte. Danach beschrieb sie ausladend, was vor dem Laden los war, fragte die Freundin, wann sie denn am nächsten Morgen dort anfangen würde, diskutierte, warum wir den Inhaber noch nicht angerufen hatten …
Die Kollegen im Keller packten währenddessen den Koffer mit dem Trennschneider vor der Metalltür aus, um sie aufzuschneiden, wie ich über Funk erfuhr. Zugleich hatte ich ihnen mitgeteilt, wie der Stand der Dinge bei Kevin und mir war.
Nachdem das durchgegeben war, hatte ich nicht mehr die Ruhe, mir das muntere Geplauder der Kunstfelldame so lange mit anzuhören, bis sie womöglich im Morgengrauen zum für uns wichtigen Punkt kam. Ich unterbrach sie unwirsch: «Jetzt fragen Sie doch endlich, ob sie einen Schlüssel hat und wann sie damit hier sein kann!» Die junge Frau schaute mich angesichts der barschen Ansprache zunächst etwas erschrocken an, stellte danach ihrer Freundin am Telefon aber die verlangte Frage. Die Antwort konnte ich verstehen, sie war laut genug formuliert. So sagte die Angerufene, dass sie mit ihrem Mann auf einer Feier und nicht zu Hause sei, der Schlüssel jedoch schon. Danach erläuterte sie in Romanlänge, warum ihr Mann sie nicht nach Hause fahren konnte und warum sie nicht selbst fuhr … Es war zum Verrücktwerden! Die sich vor dem Geschäft herumtreibenden Männer grinsten breit, als sie sahen, wie ich immer missmutiger wurde. Die Frauen der Männer schauten diese daraufhin böse an, weil sie anscheinend vollstes Verständnis für die Telefonierenden hatten.
Wie auch immer: Wir kamen in der Sache keinen Deut voran.
Die Kerze flackerte, die Leute guckten.
Wieder versuchte ich, die Angelegenheit zu beschleunigen, wenn das denn möglich war: «Kommt Ihre Freundin jetzt mit dem Schlüssel, oder sollen die Kollegen im Keller die Tür aufbrechen? Die sind nämlich schon bereit, aber dann ist die Tür kaputt.»
Diese Androhung half. Die Verkäuferin aus der «Stöberkiste» erklärte sich bereit, sich auf den etwa zwanzig Minuten dauernden Weg zu machen. Da konnte man nur hoffen, dass sie auch verstanden hatte, dass sie
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