112 - Der tägliche Wahnsinn
den Schlüssel mitbringen sollte.
Ich sprach unseren Chef über Funk an: «Du, die Verkäuferin aus dem Laden kommt in etwa zwanzig Minuten mit einem Schlüssel vorbei.»
Die Antwort meines Anstaltsleiters ließ befürchten, dass es wohl zu spät für die Tür war: «Ich glaube, den brauchen wir nicht mehr.»
Doch entgegen meinen Befürchtungen war die Tür nicht zerstört worden. Die Kollegen im Keller berieten gerade, wo man den Trennschleifer am effektivsten ansetzen sollte, als Steffen auffiel: «Ey, guck mal hier, Chef, die Scharnierstifte sind am unteren Ende gar nicht gesichert. Nur eingesteckt.»
«Und die bekommt man da so heraus?»
«Klar.» Steffen war sich seiner Sache sicher. «Die können wir mit einem Hammer heraustreiben. Dann fällt das Scharnier auseinander, und die Tür kann man danach aus dem Rahmen herauskippen.»
Halleluja, gepriesen sei der Herr. Die Lösung war so einfach! Steffen holte aus der Werkzeugkiste, die wir im Auto mitführen, einen Dorn und einen Hammer und schlug die Stifte aus den Scharnieren. Anschließend klappte er die schwere Brandschutztür mit Hilfe unseres Wachführers und den Polizisten nach außen ab. Gemeinsam betraten sie durch das Kellerlager den Laden. Von außen konnten Kevin und ich zusammen mit den begeisterten Passanten sehen, wie Steffen über die von Kevins Zirkusnummer durchnässte Schaufensterdekoration kletterte und unter dem Beifall des Publikums das Windlicht auspustete. Was für eine Geburt!
Kevin und ich liefen um das Gebäude herum und stiegen hinab in den Keller, wo Steffen und unser Chef mit Unterstützung des Haustechnikers die Scharnierstifte der Kellertür bereits einsetzten.
Just in dem Moment, als die Karawane aus Feuerwehr, Polizei und Hausmeister die Treppe wieder heraufstieg, traf auch die Verkäuferin mit dem Ladenschlüssel ein, vollkommen abgehetzt. Sie musste sich erst einen «Einlauf» vom Haustechniker abholen, weil das Schloss der Brandschutztür ausgetauscht worden war, dann von unserem Wachführer eine Fortbildung über die Zugangsregelungen im Einsatzfall über sich ergehen lassen, um sich anschließend von der Polizei eine Rüge erteilen zu lassen, da kein Verantwortlicher in einem solchen Notfall aufzutreiben gewesen sei. Jeder zweite Satz begann mit «Ich weiß, Sie sind nicht der Inhaber des Geschäfts, aber …», sodass sie mir am Ende sogar ziemlich leidtat. Ganz klein und betroffen stand sie da, ließ alle auf sie einreden und versuchte noch, ihren Chef zu entschuldigen, der sie am nächsten Tag bestimmt auch noch für unseren Einsatz verantwortlich machen würde. Womöglich war sie sogar diejenige, die die Kerze im Schaufenster vergessen hatte. Wenigstens flackerte sie jetzt nicht mehr. Die Kerze, die ein Dutzend Menschen beschäftigt und ein weiteres Dutzend belustigt hatte. Der Inhaber des Ladens grübelt wahrscheinlich heute noch darüber nach, wie wir ohne sichtbare Zerstörungen an der schweren Brandschutztür mit dem Hochsicherheitsschloss vorbeigekommen sind. Das haben wir nämlich niemandem verraten.
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Kapitel 8 Die Hose hinter der Schlafzimmertür
Nicht immer, wenn der Rettungsdienst gerufen wird, kann man mit Medikamenten oder einem Pflaster weiterhelfen. Manchmal geht es einfach nur um eine Hand, die zupacken kann, wenn zum Beispiel eine Seniorin aus dem Bett gefallen ist und alleine nicht wieder hochkommt. Sie drückt dazu den Hausnotrufknopf, oder der ebenfalls gebrechliche Partner sucht Hilfe bei der Feuerwehr. In solchen Fällen fahren wir mitten in der Nacht ohne Blaulicht los, um «Omma inne Koje zu helfen». Wir sind auch nicht böse, wenn es um derartige «Handgreiflichkeiten» geht. Schließlich wurde wirklich Hilfe gebraucht, und es wurde beim Notruf nicht der Weltuntergang heraufbeschworen, sondern ehrlich gesagt, worum es sich handelt.
Können wir nicht weiterhelfen, zeigen wir andere Möglichkeiten auf. Verwindet ein Mensch etwa den Verlust eines Angehörigen oder Partners nicht, kann die Trauer durchaus nicht nur Depressionen, sondern auch physische Symptome hervorrufen. Zum Beispiel Angstzustände und Herzklopfen. So wurden wir einmal zu einer Frau gerufen, die «Atemnot» hatte. Bei unserem Eintreffen stellte sich schnell heraus, dass sie ihren Mann verloren und in ihrer Not zu trinken angefangen hatte. Da Alkohol aber Gefühle nicht unterdrückt, sondern verstärkt, bekam sie psychosomatische Beschwerden, in diesem Fall einen Druck auf der Brust und ein Gefühl von
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