112 - Der tägliche Wahnsinn
Eisdiele angekommen, schickte uns ein Kellner in einem feinen weißen Hemd und in schwarzer Weste ohne nähere Erklärungen in den Keller, wo sich die Toiletten befanden. Auf dem Weg die Treppe hinunter nahmen wir schon ein gewisses Aroma war. Vor der Herrentoilette trafen wir dann auf eine völlig überforderte Frau Mitte siebzig mit geblümter Sommerbluse unter einem hellbraunen Kostüm, die sich verzweifelt an ihre Handtasche klammerte.
«Gut, dass Sie da sind! Es ist ja so peinlich!», rief sie uns zu.
Sie ging mit uns bis zur Kabine, in der saß bei offener Tür ihr Mann auf der Schüssel, der es mit seiner Durchfallerkrankung anscheinend nicht mehr bis zum «Zielquadranten» geschafft hatte. Die braune Tuchhose, die vielleicht einmal beigefarben gewesen war, hatte er ausgezogen und mitsamt dem Ton in Ton abgestimmten Unterhoseninhalt fein säuberlich vor sich drapiert, mit dem Hosenbund nach oben, heftig duftend, sodass wir gut ausmachen konnten, worin sein Problem lag. Seine Frau war jedenfalls nicht fähig, es uns zu erklären. Der Senior mit dem schütteren Haar war jetzt zwar erleichtert (auch darüber, dass wir da waren), wusste aber nicht, was er machen könnte, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Die Hose war nicht mehr zu tragen, die wenig krisenfeste Frau kurz vor dem Nervenzusammenbruch, und mit nacktem Hintern nutzte ihm auch sein sauberes Sakko nichts, wollte man den Nachhauseweg durch die Fußgängerzone antreten.
Dieter machte aufgrund des Geruchs gleich wieder einen Schritt rückwärts und überließ mir großzügig die Einsatzleitung: «Öhm … mach du datt ma. Musse auch mal lernen.»
Ich wollte erst einmal abchecken, ob es vielleicht neben dem erkennbaren Dilemma auch ein akutes gesundheitliches Problem gab. Darum befragte ich den Halbnackten zunächst: «Ist Ihnen schlecht? Fehlt Ihnen etwas?»
Genervt antwortete er: «Nein, mir geht es bestens. Mir ist nur dieser Mist hier passiert.» Dabei deutete er auf seine um mindestens ein halbes Pfund schwerer gewordenen Beinkleider und fuhr fort: «Ich brauche bloß eine neue Hose. Aber meine Frau kriegt nichts auf die Reihe!»
«Was genau kriegt sie nicht auf die Reihe?»
Er erzählte uns nun, dass er aktuell unter einer Magen-Darm-Unpässlichkeit leide und in der Fußgängerzone plötzlich «Druck» bekommen hätte. «Wir haben ja noch versucht, eine Toilette aufzusuchen, aber auf dem Weg hier runter konnte ich einfach nichts mehr halten. Jetzt ist meine Frau überfordert, und ich kann hier ohne Hose nicht mehr weg.» Seine Frau, mental blockiert, schaute mich hilfesuchend an: «Was machen wir denn jetzt? Können Sie ihn nicht nach Hause fahren?»
Da wir kein Taxi sind und ein medizinischer Notfall nicht vorlag, sondern eher ein kosmetischer, war ich von dieser Idee nicht wirklich begeistert. Oben an der Treppe hörte ich Dieter, der von der ausdünstenden Hose anscheinend noch sehr beeindruckt war, mit dem Kellner im gastfreien Café reden: «Boh, ey, datt müffelt ja! Da rollen sich die Fußnägel ein! Wie lange sitzt der denn schon da unten übern Schacht?» Weil der Kellner in seiner Antwort aber deutlich diskreter mit der Situation umging, verstand ich ihn nicht.
«Wo wohnen Sie denn?», fragte ich das verzweifelte Ehepaar.
«In der Elmarstraße 14 , gar nicht so weit von hier», erwiderte die Frau.
Die Lösung, die ich ihr jetzt präsentierte, war ihr seltsamerweise nicht eingefallen: «Dann fahren Sie mit einem Taxi nach Hause und holen für Ihren Mann eine neue Hose. Haben Sie eine gefunden, kommen Sie wieder zurück.»
Es folgte zwischen dem Paar ein Dialog, der deutlich die Blockade im Kopf der Frau erkennen ließ:
«Aber ich weiß ja gar nicht, wo Hans die Hosen hat!»
«Im Schlafzimmer, natürlich! Da hängt eine an der Tür.»
«Wie? An der Tür?»
«Da, wo immer eine hängt, die braune, auf dem Bügel!»
«Und wenn die da nicht hängt?»
«Dann holst du eine aus dem Kleiderschrank.»
«Welche denn?»
Es war zum Verrücktwerden: Sie begriff einfach nicht, was der Punkt der ganzen Aktion sein sollte, und diskutierte Probleme, die keine waren. Man konnte den Eindruck gewinnen, als würde die gute Frau noch nicht lange in der Wohnung leben, da sie nicht einmal mehr wusste, wo der Kleiderschrank stand.
«Hören Sie», unterbrach ich diesen sinnlosen Dialog, «wir rufen Ihnen jetzt ein Taxi.»
«Und wenn …»
«Nein, nicht ‹und wenn›», fiel ich ihr erneut ins Wort. «Ich rufe ein Taxi. Sie fahren
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