112 - Der tägliche Wahnsinn
weitergehen soll. Manchmal lassen sich sowohl Ursache als auch Schaden rasch und einfach beseitigen. Man muss dazu nur praktisch veranlagt sein. Doch das mit dem praktischen Denken ist bei manchen Menschen leider so eine Sache. Wird etwas verlangt, was über die alltäglichen Rituale hinausgeht, sind sie schnell mit den einfachsten Sachen überfordert. Das erwähnte Schließen des Haupthahns fällt diesen Personen dann unter Stressbedingungen ebenso wenig ein wie das Unterstellen eines Eimers unter eine tropfende Stelle. Dass man eine durchnässte Elektrik durch Herausdrücken der Sicherung besser stromlos schaltet, gehört für viele Betroffene zum «höheren Fachwissen». Da wird lieber die Feuerwehr gerufen, wenn der am Boden stehende DVD -Recorder in der Wasserpfütze schmort und knistert, statt selbst aktiv zu werden. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Menschen immer hilfloser werden, wenn es darum geht, spontane Lösungen für ein Problem zu finden.
Ein herrliches Beispiel für eine «niedrige Batteriespannung im Hirn» erlebten wir einmal in einem Studentenwohnheim. Der alte Tag (Samstag) war schon weit fortgeschritten beziehungsweise der neue Tag (Sonntag) hatte gerade angefangen, da bekamen wir einen Einsatz, der uns in eine solche Behausung für Nachwuchsakademiker führte. Der Alarmgong ertönte nachts um halb eins, das Licht flammte in den Räumen auf, und aus den Wachlautsprechern meldete sich die Leitstelle: «Hilfeleistungseinsatz für das LF . Wasser in Wohnung. Studentenheim Lindenweg 55 , 4 . OG , Apartment 435 . Ohne Sondersignal.» Auf dem Alarmschreiben war eine Hanna Lenzen als Anruferin ausgewiesen.
Wir – in dieser Nacht waren das Dieter, der das Fahrzeug steuerte, der Wachführer, Manfred und ich, wobei Manni und ich als Angriffstrupp eingeteilt waren – besetzten also in Ruhe unser Löschfahrzeug. Dieses Standardfahrzeug hat eine so umfangreiche Ausstattung, dass man für fast alle Lebenslagen zumindest einige Grundwerkzeuge mitführt, unter anderem auch einen Wassersauger. So fuhren wir los und machten uns unsere Gedanken, was passiert sein mochte. Hatte jemand versucht, eine Wasserleitung mitten in der Nacht selbst zu reparieren? Oder war bei «gewissen Spielchen» eine Badewanne zerbrochen? Wir waren auch schon mal in einem Heim, in dem jemand einen Boiler geklaut hatte, ohne das Wasser abzudrehen …
Auf dem Weg zur Einsatzadresse schaute Manfred genervt und mit seinen Augenlidern kämpfend aus dem Fenster: «Mann, immer mitten in der Nacht! War gerade eingeschlafen.»
Ich griff wie immer den Ball auf: «Wie? Eingeschlafen? Ein Feuerwehrmann schläft doch nicht, der ruht nur!»
Manni ging aber dieses Mal nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: «Das ist wie bei einem RTW -Einsatz mit dem Stichwort ‹unklare Schmerzen›: Tagelang tut der Rücken weh, aber sonntagmorgens um drei geht es dann angeblich wirklich nicht mehr. Und das Wasser im Studentenheim ist womöglich auch so ’ne Nummer. Immer derselbe Mist!»
Er sollte recht behalten.
Als wir vor dem Gebäude im Lindenweg ankamen, einem Wohnsilo aus den Siebzigern mit geschätzten zwanzig Etagen in wenig ansprechender Plattenbauweise, stiegen wir mit dem Chef aus, um uns die angekündigten Fluten anzusehen. Erst einmal standen wir aber vor einer verschlossenen doppelflügeligen Eingangstür aus Glas und suchten zwischen Hunderten von Klingelschildern den Namen aus unserem Alarmschreiben heraus. Endlich hatten wir «Hanna Lenzen» gefunden. Im Flurbereich gammelten zu dieser späten Stunde noch ein paar der jungen Bewohner auf den Fensterbänken und einigen zerschlissenen Polstersesseln herum und ignorierten uns einhellig, als wir klingelten. Nichts passierte. Wir warteten vor der Glastür. Die Gegensprechanlage an der Tür blieb stumm.
«Die könnten uns ja wenigstens mal aufmachen und fragen, wohin wir wollen», brummelte ich. Immerhin waren wir mit unseren Uniformen deutlich als Feuerwehrleute zu erkennen, und auch das Löschfahrzeug ein paar Meter vor der Haustür entfernt sollte stutzig machen, ob wir im Haus vielleicht einen «dringenden Termin» hätten. Ich klopfte an die Glastür. «Hallo! Können Sie mal die Tür öffnen?» Die Angesprochenen schauten uns nur desinteressiert an. Keiner erhob sich, um uns ins Haus zu lassen.
Jetzt hämmerte unser Chef ans Glas: «Hey, da drin! Mal bitte aufmachen!»
Die Leute im Hausflur kann man sich in etwa wie eine Herde Kühe auf der Weide vorstellen, wenn man sich ihr
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