112 - Der tägliche Wahnsinn
einem Behandlungsraum in den Flur schaute, als sie uns herannahen hörte. Glücklicherweise deutete sie das Japsen des Mannes mit den panisch geweiteten Augen auf der Trage richtig und lief schnell zur diensthabenden Ärztin, die in der ZNA , der Zentralen Notaufnahme, gerade eine Frau untersuchte. Die Medizinerin reagierte sofort und ließ alles andere liegen.
«Den Mann haben wir in diesem Zustand quasi um die Ecke gefunden», berichtete ich. «Akute Atemnot, hat vor etwa einem Jahr einen Infarkt gehabt. Wir haben noch keine Personalien oder weitere Informationen über seine Vorerkrankungen.» Der offensichtliche Zustand des Patienten, der weiterhin leichenblass und mit Schweiß auf der Stirn nach Luft rang, reichte ihr bereits, um die Dringlichkeit des Notfalls zu erkennen. Sofort ließ sie den Mann in ein Bett umlagern und rief auf der Intensivstation an, um ihn dort anzumelden.
Nachdem die Ärztin mir den Patienten abgenommen hatte, begann ich am Tisch eines freien Behandlungszimmers das Rettungsdienstprotokoll zu schreiben, das wir eigentlich schon zusammen mit dem Patienten an den behandelnden Arzt übergeben sollen. Auf diesem Protokoll sind das Notfallgeschehen, unsere Verdachtsdiagnose sowie alle von uns aufgeführten Maßnahmen dokumentiert, um dem behandelnden Arzt die Möglichkeit zu eröffnen, noch einmal alles nachzulesen, was vor der Einlieferung mit dem Patienten geschah. Da wir noch keine Personalien hatten, schauten die Schwester und ich in der braunen Aktentasche des Mannes nach.
«Vielleicht finden wir ja auch irgendwelche Medikamente, die uns etwas über die Vorgeschichte verraten», meinte sie.
«Hmm», antwortete ich, nachdem die Durchsuchung der Tasche beendet war, «nichts, keine Medikamente. Nicht einmal ein Portemonnaie mit einem Ausweis oder einer Krankenkassenkarte. Aber ein Brief!» Ich fingerte den Umschlag aus der Tasche und las die Adresse. Sie stimmte mit dem Haus überein, vor dem wir den Senior gefunden hatten. «Dann wird er das wohl sein», schlussfolgerten wir. Als ich die Personalien abgeschrieben und der Schwester das Protokoll überreicht hatte, ging ich wieder auf den Flur und brachte in Erfahrung, dass der Patient ohne weitere Untersuchungen zur Intensivstation gebracht worden war.
Etwa zwanzig Minuten später – den Rettungswagen hatten wir in der Zwischenzeit wieder einsatzbereit gemacht – klingelte in unserer Unterkunft das Telefon. «Schwester Ramona, aus der Intensiv», hörte ich eine Stimme. «Der Herr, den ihr gerade gebracht habt, hieß ganz anders. Wir haben Aktenaufkleber mit seinen richtigen Personalien hier oben im ersten Stock. Kannst dir gleich welche abholen.»
«In Ordnung, ich komme gleich rauf», sagte ich. «Danke.»
Auf dem Weg zum Tresen, hinter dem das Stationspersonal arbeitete, kam ich an dem Zimmer vorbei, in dem «unser» Patient behandelt wurde. Er war bereits an das Beatmungsgerät angeschlossen. Ein Arzt drückte rhythmisch auf seinen Brustkorb, während ein Pfleger sich gerade schwitzend vom letzten Reanimationszyklus erholte. Effektive Herzdruckmassage ist anstrengend! Der Oberarzt stand abwartend an der Fensterbank, zwei Schwestern zogen Medikamente auf und spritzten sie dem Patienten. Eine von ihnen sah mich kurz an und nickte mir zunächst zu, um danach den Kopf zu schütteln. Nonverbale Kommunikation:
Ja, es ist «euer» Patient. Nein, das wird nichts mehr …
Betreten fummelte ich mir am Tresen den benötigten Personalienaufkleber von der Patientenakte.
Ich überlegte: Hatte ich etwas falsch gemacht? Ihm eine Chance versaut? Ich glaube nicht.
Der Mann, mit dem ich ein paar Minuten vorher noch gesprochen hatte, dem ich auf die Trage half, dessen persönliche Gegenstände ich durchsucht hatte, für den ich das bisschen, was ich tun konnte, getan habe, der Mann ist etwas später tot.
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Kapitel 16 Gulaschsuppe in Scheiben
Kevin und ich waren gerade mit dem Pflasterlaster auf dem Rückweg von einem einfachen Krankentransport, als es am Gürtel klingelte. Die kurzen Informationen in der Alarmmeldung reichten jedoch aus, um den Kollegen nervös werden zu lassen: «Rosenmühlenweg 5 . Zimmerbrand».
«Das ist ja um die Ecke, da vorne links», sagte Kevin leicht erschrocken. «Da können wir mit dem Rettungswagen aber nichts machen, und das Löschfahrzeug wird noch eine Weile brauchen.»
Mir fiel da schon einiges mehr ein: «Was hast du denn in deiner Ausbildung gelernt? Nur Kaffee kochen? Wir könnten zum
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