112 - Der tägliche Wahnsinn
sehen müssen!» Sie verstand die Welt nicht mehr. Der Assistent erklärte ihr, dass sich Notfälle nicht immer vorher ankündigten. Danach kehrte er zu uns zurück, um uns die wenig aussagekräftigen Informationen weiterzugeben.
Unterdessen ging die Reanimation weiter, jetzt unter den Augen des Arztes: Atemweg sichern, defibrillieren, Medikamente spritzen und ständiges Drücken auf dem Brustkorb. Schließlich verschwand das Kammerflimmern vom EKG , wenige Augenblicke später begann das Herz zu schlagen. Dieter freute sich: «Doc, wir haben einen Rhythmus.» Der Arzt fühlte zunächst am Hals nach dem Puls, dann in der Leiste. Besorgt schaute er auf das EKG -Gerät und sagte: «Es sind nur vereinzelt Pulswellen zu fühlen. Das Herz wird auch wieder schneller.» Tatsächlich: Die Herzfrequenz steigerte sich immer mehr, bis es wieder in ein Flimmern verfiel. Unsere anfängliche Erleichterung war dahin. Der ganze Zirkel mit Defibrillation, Herzdruckmassage und dem Spritzen von Medikamenten ging von vorne los.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde wurden wir für unsere Bemühungen belohnt. Das Herz gab nach und ließ sich dazu nötigen, in einem einigermaßen brauchbaren Rhythmus das Blut durch den Körper zu pumpen. «Der Kreislauf steht», diagnostizierte der Notarzt. «Transportfertig machen. Beeilen wir uns, bevor das Herz erneut aussetzt.»
Während Dieter mit der Freundin und der Mutter der Patientin sprach, um sie zu beruhigen und ihnen zu erzählen, was jetzt weiter mit der jungen Frau geschah, räumte der Assistent das Schlachtfeld in der Wohnung auf. Es ist kaum zu glauben, wie viel Abfall bei einer Reanimation übrig bleibt. Währenddessen lief ich zum RTW , bereitete die Trage vor und kam mit einem Tragetuch unter dem Arm wieder in die Wohnung. Gemeinsam legten wir die beatmete Patientin auf das Tuch, trugen sie die Treppe hinunter und schoben sie auf der Trage ins Auto. Das Beatmungsgerät zischte mechanisch, auf dem EKG -Monitor war ein gleichmäßiger Herzrhythmus zu sehen.
Mit blauer Dachbeleuchtung und Musik fuhr ich so schnell, wie es die Straßenverhältnisse zuließen, ins Krankenhaus. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf: Hatte das Gehirn in der ganzen Zeit genügend Sauerstoff gehabt? Was nützt ein gerettetes Leben, wenn man nichts mehr mitbekommt, weil das Gehirn zu sehr geschädigt ist? Ein Großteil der Patienten, die wiederbelebt werden, behalten durch den Sauerstoffmangel im Hirn einen Schaden zurück, weil in dem Moment, in dem jemand umfällt, keiner der Zeugen mit der Reanimation anfängt.
Im Krankenhaus brachten wir die Frau auf die Intensivstation, wo sie weiter versorgt wurde. Gern hätte ich gewusst, was die Ursache des Dramas gewesen war, auch, wie es ihr ergangen war. Denn dann hätte ich im Nachhinein ein besseres Bild darüber gehabt, ob all die Maßnahmen, die wir durchgeführt hatten, richtig gewesen waren und Sinn gemacht hatten. Litt sie an Spätfolgen? Konnte sie ihre Freunde und ihre Familie noch wiedererkennen? Oder wurde sie in einem Pflegeheim künstlich ernährt und starrte im Wachkoma auf das Mobile über dem Bett? Hatte ich überhaupt das Recht, darüber nachzudenken, ob jemand noch eine Chance verdiente oder für ihn sowieso «der Zug abgefahren» war und er besser einfach gestorben wäre? Aber wie es im Rettungsdienst üblich ist, erfährt man selten, ob die Bemühungen etwas gebracht haben und was aus dem Patienten wird. Auch dieses Mal hörten wir zunächst nichts mehr von der Patientin. Doch dann kam es anders, wenn auch verzögert. Man begegnet sich bekanntlich oft zweimal im Leben.
Nachdem ich mich zum staatlich geprüften Rettungsassistenten weiterqualifiziert hatte, durfte ich jetzt Rettungseinsätze verantwortlich leiten, einige Medikamente geben und hatte nun meinerseits einen Kofferhansel hinter mir herlaufen.
Ich war mit Kevin auf dem Rettungswagen eingeteilt. Nach einem eher ruhigen Schichtbeginn, der nur durch den einen oder anderen Krankentransport unterbrochen wurde, hatte die Leitstelle dann doch noch einen Notfall für uns, der – wie sollte es anders sein – passend zum Abendessen kam. Auf dem Alarmschreiben, welches der Drucker ausspuckte, stand:
«
Rettungseinsatz. Theodor-Storm-Straße 24 , 1 . OG . Defi löst aus.» Notfälle dieser Art gibt es nicht allzu oft. Wenn das Herz dann und wann ernsthafte Funktionsstörungen aufweist, die zum Stillstand führen könnten, bekommt die betreffende Person ein Kästchen in die Brust eingepflanzt,
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