112 - Der tägliche Wahnsinn
der Bewusstlosen rhythmisch auf die Brust zu drücken. Während ich weiter und weiter drückte, beatmete Dieter sie und bereitete in den Pausen den Defibrillator vor.
«Sagen Se denen, der 12 – 83 reanimiert», wies er die kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehende Frau am Telefon an. Sie wiederholte Dieters Worte: « 12 – 83 reanimiert.» Hatte sie sich vorher womöglich noch damit getröstet, dass ihre Besucherin «nur» ohnmächtig sei, realisierte sie jetzt die ganze Tragweite des Problems: Ihre Freundin hatte einen Herzstillstand! Ich wiederum steckte in meiner ersten Reanimation ohne Notarzt, der sonst immer alle Anweisungen gegeben hatte. In der Theorie hatten wir das Ablaufschema zwar dutzendfach geübt. Doch dabei war es einzig darum gegangen, eine Puppe so lange zu bearbeiten, bis der Ausbilder zufrieden war. Jetzt lag vor uns eine junge Frau, und es lag allein an uns, dass die Wiederbelebung klappte. Es musste klappen!
«Erzähln Se mal watt», forderte Dieter die Anruferin auf, nachdem sie das zweite Telefonat mit der Feuerwehr beendet hatte. Er selbst drückte erneut mit dem Beutel Luft in die Lungen der jungen Frau auf dem Boden. «Watt hat sie denn am Herzen gehabt? Und wann?»
«Das kann ich Ihnen nicht genau sagen», erklärte die Angesprochene. «Es war im letzten Jahr gewesen. Ich glaube, sie nimmt seitdem auch regelmäßig Tabletten. Vielleicht weiß die Mutter mehr. Die kommt gleich, ich habe sie angerufen, bevor Sie eintrafen.»
«Ja, gut», sagte Dieter. Unter Stress konnte er sogar Hochdeutsch. «Das ist später für den Notarzt wichtig, jetzt brauchen wir erst einmal einen Kreislauf.»
Er klebte die EKG -Elektroden um meine drückenden Hände herum auf den Brustkorb und kramte das Zubehör für die Intubation, für das Legen eines Beatmungsschlauchs, aus dem Koffer. Auf dem Monitor unseres Defibrillators zeichnete sich nach dem Anschließen des Kabels an die aufgeklebten Elektroden ein Bild, wie man es von einem Seismografen kennt: Herzkammerflimmern! Und wenn das Herz flimmert, also wenn jede Muskelfaser unkontrolliert das tut, was ihr beliebt, wird kein Blut mehr durch den Körper der Patientin gepumpt. Das ist natürlich höchst ungesund. Also spulten wir das volle Lehrprogramm ab: Dieter schmierte reichlich Elektrodengel auf die «Bügeleisen», drückte sie der jungen Frau auf die Brust und schoss den ersten Stromschlag ab. Aber das EKG -Bild zappelte immer noch ziellos umher.
Während wir weiter versuchten, einen Ersatzkreislauf durch Herzdruckmassage und Beatmung aufzubauen und mit Elektroschocks das Herz bearbeiteten, damit die Muskelfasern endlich still hielten und ein Rhythmus gefunden werden konnte, betrat die entsetzte Mutter die Wohnung. Sie sah ihre Tochter zwischen Tisch und Sofa auf dem Boden liegen, überall Kabel, Infusionen, den Luftschlauch zum Intubieren, aufgerissene Verpackungen, in denen sich Spritzen befunden hatten, Beatmungsbeutel und zwei fremde Männer, die inmitten dieses Durcheinanders auf der entblößten Brust ihrer Tochter herumhantierten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Dieter bat sie, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, bitte in der Küche zu warten. So sollte keine Mutter ihre Tochter sehen, und helfen konnte sie auch nicht. Die Freundin der Patientin berührte die Frau an der Schulter und führte sie aus dem Raum: «Kommen Sie, die Männer hier tun ihr Bestes!»
Kurz danach erschien der Notarzt mit einem Assistenten. Dieter unterrichtete ihn: «Die junge Frau hatte bei unserem Eintreffen einen Herzstillstand, irgendeine Herzkrankheit ist auch bekannt. Die Mutter sitzt in der Küche, sie weiß bestimmt mehr über die Vorgeschichte. Wir haben bisher dreimal geschockt, doch das Kammerflimmern ist nicht zu durchbrechen. Pupillen waren weit, aber nicht entrundet, sie sind jetzt wieder enger.» Weite, nicht runde Pupillen sind immer ein Zeichen für akuten Sauerstoffmangel im Gehirn. Ein Hirnschaden ist dann meist unabwendbar. Diese Patientin hingegen hatte zu Beginn der Reanimation glücklicherweise noch kreisrunde Pupillen.
Der Assistent verschwand in der Küche, um von der Mutter möglichst viele Informationen über die Bewusstlose in Erfahrung zu bringen. Die Befragung ergab aber nur, dass «der Hausarzt mal so Herzstolpern gefunden hatte» und sie deswegen ein paar Pillen bekam. «Dass junge Frauen so ein bisschen Kreislauf haben», meinte sie, «kann ja passieren. Aber dass es so ernst ist, hätte der Hausarzt doch
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