112 - Der tägliche Wahnsinn
Während ich die Medikamente durchzählte, steckte Dieter bis zum voluminösen Bauch zwischen den Regalböden und wedelte, nachdem er sich unter Ächzen wieder ans Tageslicht gepellt hatte, mit einigen Packungen steriler Kompressen herum: «Hier, die sind abgelaufen! Kannze inne Tonne kloppen. Habbich hinter die Beatmungsschläuche gefunden. Da musse natürlich auch drauf achten, dass nich zu viel vonne Pisselünten hier ins Regal gestopft wird, sonst rutscht alles hinter datt Regal runter. Und wenn das die Amtsapothekerin bei einer Kontrolle sieht, springt die dir mit dem nackten Hintern ins Gesicht.»
«Ist die denn so?», fragte ich.
«Klar», meinte Dieter. «Die ist so ’n richtiger Bürodrache. Regt sich über jeden Pups auf. Beim letzten Mal hat sie Alarm gemacht, weil der Boden im Medikamentenkühlschrank feucht war. Bleibt doch gar nicht aus, wennze da mal dran musst.»
Ich stellte mir vor, wie eine kleine, dicke Frau mit Hornbrille und Protokollblatt zeternd und schimpfend durch die Regale huschte, während die Kollegen, die gerade das Pech hatten, am Kontrolltermin Dienst zu machen, betreten und mit gesenktem Kopf vor dem Vorratsraum standen: «Ja, Frau Apothekerin … Mein Fehler, Frau Apothekerin … Passiert nicht wieder, Frau Apothekerin …» Sollte ich mal derjenige Pechvogel sein, würde ich das bestimmt nicht mehr ganz so amüsant finden, wie es mir jetzt erschien.
Unsere Kontrollarbeit wurde allerdings vom Klingeln unserer Piepser abrupt beendet: «Rettungseinsatz. Akazienweg 33 . Atemnot», stand auf dem Display zu lesen. Das hieß: Wir wurden ohne Notarzt zu jemandem geschickt, der Koordinationsschwierigkeiten bei der Kontraktion des Zwerchfells hatte. Anscheinend nichts Aufregendes. Oft fährt man zur angegebenen Adresse und wird lang und umständlich darüber aufgeklärt, dass man überhaupt keine Luft bekäme und das schon seit gestern. So «richtige» Atemnotpatienten, bei denen man bereits an der Wohnungstür hört, dass sie nach Luft ringen, hat man weniger.
Auf der Alarmfahrt zum Einsatzort musste Dieter erst einmal in die Straßenkarte sehen. «Wo iss’n die Bude? Ich glaube, da war ich noch nicht», rätselte er, während er im Stadtplan blätterte. «Ach, datt geht da vonne Bettina-von-Arnim-Straße ab, nachen S-Bahnhof rechts rein, so ’ne Schmuddelgegend. Na, da bin ich ja gespannt, watt da für’n Volk auf uns wartet.» Ich schob unseren Pflasterlaster zwischen den Verkehrsinseln einer Straßenbahnhaltestelle hindurch, da vor der nächsten roten Ampel auf allen Spuren Autos warteten. Die Straßenbahntrasse hingegen war zwar Sperrfläche, aber frei. Und im Einsatz müssen wir dort fahren, wo Platz ist. Schnell war in der Zielstraße auch die richtige Hausnummer gefunden, eine Mietskaserne mit renovierungsbedürftiger Fassade. Nach dem Klingeln hörten wir aus der Sprechanlage eine Stimme, die hektisch sagte: «Kommen Sie in den zweiten Stock, schnell, kommen Sie!»
Oben wurden wir von einer etwa zwanzigjährigen Frau ohne weitere Erklärungen in die Wohnung gewunken. Wir betraten ein typisches Studentenzimmer: Regale aus einem schwedischen Sägewerk, überall Bücher, einige vernachlässigte Topfpflanzen. Auf einer abgewetzten Couch hinter einem mit Kaffeeflecken versehenen Tisch lag eine leblose Blondine. Die Frau, die uns geöffnet hatte, kam hinter uns hergelaufen und fing an zu erzählen: «Wir haben hier einfach gesessen und uns unterhalten. Plötzlich hat meine Freundin die Augen verdreht und ist umgefallen. Ohne dass vorher was war. Ich glaube, sie hatte mal was am Herzen.»
Während ich auf die Anweisungen meines Vorgesetzten wartete, ahnte ich, dass es hier nicht mit ein wenig Sauerstoff getan war. Während die Patientin so gar nicht auf ihre Umwelt reagierte, fühlte Dieter an ihrem Hals den Puls und sah ihr ins Gesicht. Schließlich eröffnete er mir: «Oh, oh … Rea!» Das war die Kurzfassung für Reanimation.
Während Dieter die Frau, die uns in die Wohnung gelassen hatte, anwies, abermals über Notruf bei der Feuerwehr anzurufen, um der Leitstelle mitzuteilen, dass wir einen Notarzt bräuchten, schob ich den Couchtisch beiseite. Danach zerrten mein älterer Kollege und ich gemeinsam die blonde Frau vom Sofa hinunter auf den Boden. Behandlungs- und Beatmungskoffer flogen auf (damals war die Beatmungsausrüstung noch nicht in einem Rucksack untergebracht, sondern in einem zweiten Koffer), ich nahm mir eine Schere heraus, schnitt den Pullover auf und begann,
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