112 - Der tägliche Wahnsinn
durch den Flur zur Wohnungstür, um meine Kollegen reinzulassen. Diese war aber verschlossen. Der Schlüssel steckte nicht, und ich konnte ihn auch nirgendwo entdecken, sodass die Kollegen ebenfalls durchs Fenster stiegen. Den verwirrten Herrn hatten sie inzwischen dazu bewegt, aus der Wanne zu klettern und ihnen ins Wohnzimmer zu folgen. Auch die Nachbarn waren inzwischen beruhigt worden, sodass sie wieder in ihre Betten zurückkehren konnten.
«Hören Sie, wo ist denn Ihr Wohnungsschlüssel?», fragte ich.
Der Angesprochene überlegte kurz: «Am Bund mit dem Autoschlüssel … und der müsste an der Garderobe liegen.»
Da war er aber nicht, was ich ihm auch mitteilte.
«Ja, dann … hier im Wohnzimmer, vielleicht auf der Kommode.»
Dort wurde er tatsächlich von einem der beiden Rettungsassistenten gefunden und mir übergeben. Mit wenig Hoffnung steckte ich ihn in die innere Hälfte des Türzylinders, dessen äußere Hälfte ja total ramponiert und verbogen war. Aber wir hatten Glück: Das Schloss war noch in Ordnung, der Restzylinder funktionierte, und die Tür ließ sich öffnen. Dieter fing sofort damit an, den zerstörten Schließzylinder auszutauschen, und wir hörten, wie die Rettungsassistenten versuchten, vom Mieter der Wohnung in Erfahrung zu bringen, was denn überhaupt geschehen war.
Es stellte sich heraus, dass er im Dunkeln auf die Toilette gegangen war. Durch die Badezimmertür geradeaus zur Toilette. «Wissen Sie, ich schalte kein Licht ein, weil ich mich hier ja auskenne», erklärte er. Aber während der Verrichtung seiner geschäftlichen Aktivitäten verlor er die Orientierung und machte aus unerklärlichen Gründen gedanklich einen Zeitsprung – zapp! – in das Jahr 1981 . «Und als ich mich dann vom Klo erhob, war es auf einmal wie in der Wohnung, in der ich früher gelebt habe. In der musste ich mich von der Toilette aus nach links wenden, um die Tür zu erreichen. Aber da war dann nichts, nur die Wanne vor dem Fenster.»
Verzwickte Situation. Gefangen in einem Wurmloch, in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum. Er verfiel in Panik, und seine einzige Idee, um den Fehler in seiner Lebensmatrix zu lösen, bestand darin, in der Wanne stehend das Badfenster zu öffnen, gegen das Rollo zu trommeln und die Nachbarn nachts um drei wild zu machen. Die riefen die Polizei, und weil die Beamten das Problem ohne entsprechendes Werkzeug auch nicht in den Griff bekamen, forderten sie uns zur Amtshilfe an.
Die Kollegen vom Rettungswagen untersuchten den «Eingesperrten» noch, und so langsam dämmerte dem Mann im beleuchteten Wohnzimmer, wieso die Tür plötzlich weg war. Nachdem er richtig wach und das Türschloss repariert war, brauchte er nicht zwingend ins Krankenhaus. Denn gegen Zeitsprünge haben die dort auch nichts. Nach einer Entschuldigung bei allen Einsatzkräften verabschiedeten wir uns. Vielleicht würde der Mann beim nächsten nächtlichen Herumwandern das Licht anmachen.
[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 19 Reanimation mal anders
Dieter war einer von diesen Altgedienten, die schon Verletzte durch die Gegend geschleppt hatten, als ein Rettungswagen noch Unfallwagen hieß. Lustig, routiniert und mit einer gehörigen Portion Schwungmasse auf den Hüften war er genau der Richtige, um Neulingen beizubringen, wo der Puls klopft. Er war ein Weihnachtsmanntyp, nur ohne Vollbart, denn den darf man bei der Feuerwehr nicht haben. Wegen der Dichtigkeit, wenn man eine Atemschutzmaske trägt.
Dieter gehörte zu den Kollegen, die auch mich auf das «Retten da draußen» vorbereiten sollten. Die Geräte und Materialien zur Patientenversorgung kannte ich aus dem Lehrgang, das war die Theorie. Er sollte mir jetzt zeigen, wie man nicht nur mit Patienten, sondern auch mit der eigenen Belastung umgeht, die durch einige Notfälle unweigerlich auftritt. Denn es gibt Einsätze, bei denen man trotz aller Technik nicht helfen kann. Und dass man unter Umständen zu verantworten hat, dass nicht nur einfach irgendwas kaputt geht, wenn es mal nicht «rund» läuft, sondern womöglich ein Mensch stirbt.
Eine von Dieters Weisheiten war denn auch: «Im Zweifel sage dir immer: Der Patient hat angefangen. Wir können nicht immer alles wieder geradebiegen.» Das klingt vielleicht ein wenig banal, und so etwas Ähnliches hört man ebenfalls in der theoretischen Ausbildung, aber verstehen kann man es erst im Einsatzdienst.
Eines Tages standen wir nach der Dienstübernahme im Vorratsraum und kontrollierten die Bestände.
Weitere Kostenlose Bücher