112 - Der tägliche Wahnsinn
ist jemand in einem ähnlichen Zustand und sehr müde. Aber ich glaubte, dass auch das nicht geschehen war.
Bei näherer Betrachtung des Hofes bekam ich den Eindruck, dass etwas anderes passiert war. «Schau mal, da oben im ersten Stock, da steht ein Fenster offen», sagte ich. «So wie es aussieht, muss da ein Bad sein. Ob er da rausgefallen ist?»
«Das würde erklären, wie der Mann hierhergekommen ist, obwohl die Tür zum Hinterhof verschlossen ist, und warum er bei diesem Sauwetter nicht einmal Pantoffeln trägt», stimmte Kevin mir zu. Auch die Schmerzen im Rücken und die Abschürfungen an den Armen passten dazu: Unser Notfall war ein Fenstersturz.
Wir waren uns unserer Sache zwar nicht ganz sicher, entschlossen uns aber dazu, den noch nicht alarmierten Notarzt von der Leitstelle nachzufordern. Denn wenn der Mann aus dem Fenster und dabei auch noch auf eine Rasenkante gefallen war, konnte er innere Verletzungen haben. Bei einem Beckenbruch zum Beispiel kann man innerlich so viel Blut verlieren, dass es lebensbedrohlich ist.
«Ich sag der Leitstelle Bescheid», sagte Kevin, während er zum Rettungswagen lief. «Und ich bringe auch gleich den Rest der Ausrüstung mit.» Mit «Rest» war eine Schaufeltrage gemeint, die man unter einen Patienten bekam, ohne ihn viel zu bewegen, sowie eine Vakuummatratze, die durch Abpumpen von Luft hart wie ein Gipsbett wird. Während der Kollege durch den Friseursalon verschwand, legte ich dem in der Regenflut reglos am Boden liegenden Mann eine Halskrause an, um die Halswirbelsäule zu stabilisieren. Dann untersuchte ich ihn noch einmal genauer, indem ich vorsichtig seinen Körper abtastete und die Gelenke von Armen und Beinen – soweit es bei seiner Lage möglich war – etwas bewegte. Das Ergebnis: Das Becken war stabil, der Brustkorb auch, wahrscheinlich keine größeren Brüche. Vielleicht hatte er Glück gehabt. Es ist erstaunlich, wie viel ein Körper bei Unfällen manchmal aushält.
Ich bohrte weiter nach: «Die Schmerzen im Rücken, wo sind die genau?»
Der Mann rührte sich und zeigte mit der Hand Richtung Lendenwirbelbereich. «Da unten. Die sind immer so schlimm …»
«Wieso immer? Kennen Sie die Schmerzen? Waren die schon vorher da?»
Er stöhnte, als er den Arm wieder nach vorne drehte. «Ja, die habe ich schon lange …» Er erzählte weiter, dass er mit den Beschwerden bei einem Orthopäden in Behandlung sei. Nun gut, zumindest rührten sie nicht von einer frischen Verletzung her.
Kevin kam jetzt zurück, bepackt wie ein Sherpa, mit Schaufeltrage, Matratze, Absaugpumpe und einer trockenen Decke, die wir sofort unter die Rettungsfolie legten, damit der Patient nicht noch stärker auskühlte. Wir waren sehr vorsichtig und bemühten uns, ihn möglichst wenig zu bewegen. Der Mann war schließlich aus einem bestimmten Grund ziemlich durcheinander: Das konnte eine Folge des Unglücks sein, zum Beispiel eine Hirnblutung, oder auch die Ursache des Sturzes. Vielleicht hatte er aufgrund einer Kreislaufstörung am Fenster das Gleichgewicht verloren und war daher herausgestürzt. Vielleicht hatte seine Verwirrtheit aber auch gar nichts mit diesem Notfall zu tun. Wir wussten es nicht. Es gab keine Zeugen. Und was der Patient von sich gab, war nicht unbedingt brauchbar. Wir konnten nicht einmal mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Mann überhaupt einen Unfall hatte.
Während ich einen Zugang in eine Vene legte, um eine Infusion anzuschließen, versuchte Kevin von anderen Bewohnern des Hauses herauszufinden, ob der Mann im ersten Stock wohnte. Bisher war es lediglich ein Verdacht, dass er aus dem Fenster gestürzt war. In ähnlichen Lagen hatten wir schon Flüchtlinge aus der Psychiatrie gefunden, die auch nicht theaterfein angezogen waren, als sie ihr Krankenbett verließen. Kevin rief einem Bewohner zu, der sich gerade hinter einem der Fenster zeigte: «Hallo! Machen Sie mal hier unten die Hoftür auf. Die ist abgeschlossen.» Der Bewohner verschwand hinter dem Fenster, um einige Augenblicke später an der Tür wieder aufzutauchen.
«Kennen Sie den Herrn dort im Hof?», fragte mein Kollege.
Der Mann schüttelte den Kopf. «Nein. Nie gesehen. Ich weiß aber auch nicht genau, wer hier so wohnt.»
Na klasse. Die Anonymität großer Wohnhäuser zeigte wieder einmal ihre negativen Seiten. Auch der nächste Mieter, den Kevin herausklingelte, konnte nichts über unseren Patienten sagen. Die dritte Person, die er im Haus ansprach, bestätigte jedoch, dass der im
Weitere Kostenlose Bücher