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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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Innenhof Liegende in besagter Wohnung mit dem offenen Badfenster lebte. Er wusste sogar den Namen des Mannes.
    Obwohl ich den Notfallkoffer immer nur kurz öffnete, um die benötigten Sachen herauszuholen, regnete er langsam voll. Die Kompressen waren durch Nässe unbrauchbar geworden, die sterilen Verpackungen der Infusionsbestecke weichten auf. Es pisste noch immer wie aus Eimern, was dem Wärmehaushalt des Patienten nicht gerade zugutekam. Aber wir wagten nicht, den Mann zu zweit auf die Vakuummatratze umzulagern. Hatte er doch etwas an der Wirbelsäule oder am Becken, würden wir ihm womöglich weiteren Schaden oder große Schmerzen zufügen. Das Risiko wollte ich nicht eingehen.
    Nach ein paar Minuten traf zum Glück der nachbestellte Notarzt mit seinem Rettungsassistenten ein. Der Mediziner machte einen weiteren Patientencheck und startete eine erneute Befragung, während der der Verunfallte sich daran erinnern konnte, in dem besagten Haus zu leben. «Ja, ich wohne da. Ich bin aus dem Fenster gestürzt, weil ich in Deckung gehen musste!»
    «Wieso in Deckung? Wovor?», fragte der Arzt.
    «Vor den Geschossen! Wissen Sie, die haben doch geschossen. Die Guerillabanden bekriegen sich schon wieder, das wird immer schlimmer. Und keiner tut was dagegen.» Wir hingegen hörten keine Gewehrsalven aus seiner Wohnung … Nun gut, wenn jemand aus dem Fenster stürzt, kann das Oberstübchen schon etwas durcheinandergewirbelt werden.
    Nachdem auch der Notarzt keine weiteren äußeren Verletzungen fand, hoben wir den durchnässten Mann vorsichtig, möglichst ohne ihn unnötig zu bewegen, zu viert auf die Vakuummatratze und pumpten die Luft heraus. Hierdurch lag der Mann wie in einem Gipsbett, auf diese Weise war die Wirbelsäule während des Transports stabilisiert.
    Als wir das angebliche Guerillaopfer in den RTW geschoben hatten, untersuchte ihn der Arzt noch einmal eingehender, um zu entscheiden, ob eine Klinik mit einer chirurgischen Station zur Weiterbehandlung reichen würde oder ob doch lieber ein Haus der Maximalversorgung (mit diversen Spezialisten und verschiedensten Untersuchungs- und Therapiemöglichkeiten) angefahren werden sollte. Da auch diese dritte, genauere Untersuchung keinen Verdacht auf schlimme Verletzungen ergab, entschied der Medizinmann, dass wir den Gestürzten in die normale Chirurgie bringen könnten: «Wir fahren ihn in die Rochus-Klinik. Das sollte reichen. Ich glaube nicht, dass der Patient eine Neurochirurgie braucht.»
    Im Krankenhaus kreuzte eine Schwester in der Aufnahme auf, die anscheinend nur Terminbehandlungen kannte. Wir schoben die Trage in die zentrale Notaufnahme, der Patient war mit Schürfwunden und Halskrause auf der Vakuummatratze festgebunden, und sie grinste uns nur naiv an: «Schade, jetzt seid ihr schon an dem Raum mit den frischen Betten vorbeigelaufen. Wartet aber, ich hole euch eins …» Die Schwester hatte wohl noch nicht oft in der Notaufnahme gearbeitet, denn wenn ein Patient derartig versorgt auf der Trage liegt, sollte jeder Beteiligte eigentlich sofort sehen, dass wir das nicht aus Langeweile gemacht haben, sondern weil der Patient nicht mehr bewegt werden soll. Also sollte er auch nicht von einer Pflegekraft ohne weitere Untersuchungen in ein Bett geschubst werden, da hierbei alle möglicherweise noch nicht erkannten Brüche und inneren Verletzungen erschüttert werden. Glücklicherweise kam der diensthabende Chirurg gerade um die Ecke, der nach einem kurzen Blick auf unseren durchnässten Mann in Unterhosen sofort eine Röntgenuntersuchung anordnete. Das hieß: Im Interesse des Patienten soll jede unnötige Bewegung vermieden werden, bis alle Röntgenbilder ausgewertet sind. Damit entgeht man der Gefahr, eine schwere knöcherne Verletzung zu übersehen.
    Wir hatten getan, was wir tun konnten. Wir fuhren zurück zur Rettungswache, noch längst war unsere Schicht nicht zu Ende. Drei Stunden später klingelte unser Melder erneut: «Verlegung von der ZNA Rochus-Hospital. Ziel: Schockraum Uni-Klinik. Mit Notarzt.» Den Namen des Patienten, den wir in der Zentralen Notaufnahme abholen sollten, kannten wir.
    Im Krankenhaus lag unser «Fenstersturz» mittlerweile mit seiner Halskrause im Raum für Wundversorgung. Der Chirurg klärte den Notarzt über den Untersuchungsbefund auf: «Der Patient hat eine Beckenringfraktur vorne, einige angebrochene Rippen und instabile Brüche an der Hals- und Lendenwirbelsäule.» Wegen dieser doch recht umfangreichen Verletzungen sollte er

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