112 - Der tägliche Wahnsinn
in eine andere Klinik verlegt werden. Ein Spezialist sollte ihm eine Rolle Draht in sein Skelett einbauten. Insbesondere die Brüche an der Halswirbelsäule machten den Ärzten Sorgen. Eine einzige falsche Bewegung – und der Patient wäre womöglich gelähmt! Aber wie es so ist: Braucht man dringend einen Spezialisten (in diesem Fall einen Neurochirurgen) und einen freien Operationssaal, kann sich der Arzt, der den Patienten abgeben will, die Finger wund telefonieren, bis er eine aufnahmebereite Klinik findet. In diesem Fall fast drei Stunden lang.
Auf dem Transport mit Blaulicht und Martinshorn – teilweise fuhren wir mit dreißig Stundenkilometern in Schlangenlinien um Schlaglöcher herum – merkte ich, dass der Patient inzwischen erheblich klarer war als an der Unglücksstelle. Da es mich interessierte, wie die ganze Angelegenheit genau abgelaufen war, fragte ich ihn nochmals: «Und? Wissen Sie mittlerweile, wie das passiert ist?»
Etwas genervt, weil ihm anscheinend jeder Arzt und jede Krankenschwester diese Frage gestellt hatte, betete er herunter: «Mein Name ist Erich Schellhorn, ich bin am 6 . März 1950 geboren, wohne in der Apothekengasse 27 im ersten Stock, und ich musste den Geschossen der bewaffneten Banden ausweichen. Dabei bin ich aus dem Fenster gestürzt. Haben Sie denn von den Bandenkriegen nichts in der Zeitung gelesen? Das ist furchtbar, jeden Abend, sogar in meinem Wohnzimmer!»
Es war nur verständlich, dass ich etwas irritiert war, das jedenfalls fand ich. «Nö», entgegnete ich. «Da stand nichts in der Zeitung. Die Regierung möchte wohl nicht, dass wir das wissen …» Da ich daran zweifelte, dass wir beide in derselben Realität lebten, wandte ich mich lieber den Papieren zu.
In der Uni-Klinik übergaben wir den Patienten an den aufnehmenden Chirurgen mit dem Hinweis, dass bei diesem Mann anscheinend schon vor dem Unfall einiges durcheinandergeraten sei. Die Guerillatheorie konnte keine Folge des Sturzes gewesen sein. Nur hatten ihn dieses Mal seine Halluzinationen fast das Leben gekostet.
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Kapitel 23 Sprengkörper auf den Straßen
Silvester – aus der Sicht der verschiedenen Hilfsorganisationen ist das immer ein sehr aufregender Tag. Besonders die Feuerwehr fährt für gewöhnlich von einem Kleinbrand zum nächsten, weil immer jemand so betrunken ist, dass er es anscheinend lustig findet, Mülltonnen anzuzünden. Allerdings sind jedes Jahr auch ein paar größere Feuer dabei, da sich Raketen durch gekippte Fenster in Wohnungen verirren oder Knallkörper in Kellerlöcher fallen.
Meine Schicht auf dem Löschfahrzeug begann an diesem Silvester jedoch gegen Mittag mit einem Rettungsdiensteinsatz. Dazu muss man wissen: Kann der nächste verfügbare RTW nicht schnell genug vor Ort sein, weil er eine halbe Weltreise vom Notfallort entfernt ist, wird als «First Response» (wörtlich: «Erste Antwort») zusätzlich das nächstgelegene Löschfahrzeug geschickt. Entsprechende Ausrüstung in Form eines Rettungsrucksacks haben wir natürlich auch auf den Löschfahrzeugen, und alle Kollegen sind ja, wie gesagt, im Rettungsdienst tätig. So kann bis zum Eintreffen des RTW Hilfe geleistet werden.
Wir berieten gerade, was bei uns am Abend gegessen werden sollte, immerhin würde er lang werden.
«Ein Buffet mit Käsesuppe, Räucherlachs, Brot und ein paar Frickas – und was gegen Sodbrennen am Ende», schwärmte unser Anstaltsleiter.
«Na ja, ich wäre auch gegenüber einer Salatbar nicht abgeneigt. Salat ist gesund. So mit Putenbruststreifen und Dressing», schlug Kevin vor.
Zwar erzählte er immer was von gesunder, vegetarischer Ernährung, schummelte dann aber doch Fleisch und einige kalorienreiche Zutaten unter seine Salate, frei nach dem Motto: «Tofuwurst schmeckt am besten, wenn man sie kurz vor dem Servieren durch ein Schnitzel ersetzt.»
«Buffet – mit allem!» Der Wachführer bestand auf seiner Idee. «Guck mal auf meine Schulter, dann weißt du, wessen Vorschlag besser ist.» Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Wer den höheren Dienstrang hat, hat damit auch automatisch recht.
Steffen warf nur gelassen das Wort «Chili» ein. Weil er kochen sollte, worauf wir uns geeinigt hatten, machte er sowieso die letzte Ansage. Da konnte der Chef träumen, wovon er wollte.
Weiter kamen wir in der Planung jedoch nicht. Der Alarmgong ertönte, gefolgt von der Stimme der Leitstelle: «Einsatz LF , First Responder. Adenauerring 25 . Herz vor Büdchen.» Dem Alarmschreiben
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